Das Kriegsgefangenenwesen der Wehrmacht und der Beginn des Warschauer Aufstands vor 75 Jahren am 1. August 1944
01.08.19
Der Beginn des Warschauer Aufstandes am 1. August 1944 markiert eine Zäsur in der Behandlung von Angehörigen von Widerstandsorganisationen in den durch deutsche Truppen besetzten Staaten in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Während die von Wehrmacht, SS und Polizei zur Bekämpfung der Aufständischen eingesetzten Truppen mit äußerster Brutalität vorgingen, Massenerschießungen von Gefangenen und Zivilisten an der Tagesordnung waren, wurden die überlebenden Angehörigen der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) nach der Kapitulation am 1. Oktober 1944 zu einem Sonderfall innerhalb des Kriegsgefangenenwesens der Wehrmacht.
Wehrmacht, SS und Polizei gingen in der zweiten Kriegshälfte und dem Rückzug aus den besetzten Gebieten in Europa immer rücksichtsloser im Rahmen der Partisanenbekämpfung gegen Zivilbevölkerung und Widerstandskämpfer vor. Insbesondere in der Sowjetunion, aber auch in Polen, Jugoslawien, Griechenland und Italien gehörten Massentötungen tatsächlicher oder vermeintlicher Angehöriger von Partisanenverbänden sowie die Auslöschung ganzer Ortschaften zum Besatzungsalltag.
Auch die Polnische Heimatarmee agierte bis zum Beginn des Warschauer Aufstands im Untergrund. Dien Gefangennahme bedeutete Exekution oder Konzentrationslager. Mit Beginn der Kämpfe in Warschau trugen die Soldatinnen und Soldaten der Heimatarmee Uniformen oder zumindest Kennzeichnungen in den polnischen Nationalfarben rot und weiß oder den polnischen Adler, womit sie sich gemäß den damals geltenden Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts als Kombatanten/Kämpfer gegenüber den deutschen Besatzungstruppen zu erkennen gaben. Das verhinderte jedoch nicht, das tausende im Verlauf der Kämpfe nach ihrer Gefangennahme erschossen wurden.
Ein Paradigmenwechsel setzte im Verlauf des September 1944 auf deutscher Seite ein, als der Widerstand ohne Aussicht auf einen militärischen Sieg dennoch andauerte. Die Rote Armee, die tatenlos am anderen Ufer der Weichsel zusah, wie die Kämpfe und die damit einher gehende Zerstörung großer Teile Warschaus fortdauerten, bereitete die nächste Offensive in Richtung Berlin vor. Die Konsequenz des eigentlich aussichtslosen Widerstandes der Heimatarmee war, dass der deutsche Befehlshaber, SS-Obergruppenführer und General der Polizei Erich von der Bach-Zelewski, schließlich dem Kommandeur der Heimatarmee, General Tadeusz Bor-Komorowski, eine ehrenvolle Kapitulation anbot und zubilligte, dass die Aufständischen nicht wie bis dahin als Partisanen, sondern als Kriegsgefangene gemäß den Bestimmungen der beiden Genfer Kriegsgefangenenkonventionen von 1929 behandelt werden würden.
Daraufhin legten die Aufständischen am 1. Oktober die Waffen nieder. Per Eisenbahntransport verbrachte man die Gefangenen bis Mitte Oktober 1944 in verschiedene Kriegsgefangenenlager im Deutschen Reich. Zwei Lazaretttransporte mit mehr als 1300 Gefangenen — darunter mehr als 800 Verwundete und Kranke — trafen daraufhin in der ersten Oktoberhälfte im Kriegsgefangenenlager Zeithain ein, das zu diesem Zeitpunkt ausschließlich als Lazarett fungierte.
Eine Besonderheit waren die mehr als 400 weiblichen Gefangenen, darunter die fünfzehnjährige Barbara Lewandowska. Sie überlebte die Gefangenschaft wie fast alle ihre Mitgefangenen. Dies war möglich, weil trotz der zunehmenden Radikalisierung der deutschen Kriegführung in der Endphase des Zweiten Weltkrieges die Soldatinnen und Soldaten der Polnischen Heimatarmee die ersten Gefangenen in den Kriegsgefangenenlagern im Deutschen Reich waren, die als vormals Aufständische/Partisanen analog zu den britischen und amerikanischen Kriegsgefangenen entsprechend den Genfer Konventionen behandelt wurden. Und dies obwohl diese Gefangenen im August/September 1944 erlebt hatten, mit welch unvorstellbarer Grausamkeit gegen sie und die Zivilbevölkerung Warschaus vorgegangen worden war. Der Entfesselung einer Gewaltorgie folgte eine menschliche Behandlung in den Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht.
Dies zeigte einmal mehr, dass die Kriegsgefangenenverwaltung der Wehrmacht selbst in den letzten Kriegsmonaten in der Lage war, Kriegsgefangene entsprechend den völkerrechtlichen Normen zu behandeln und ein Überleben selbst in relativ primitiven Unterkünften, wie in Zeithain, zu ermöglichen. Während Zeithain bis zur Befreiung des Lagers am 22./23. April für die sowjetischen und italienischen Gefangenen ein Sterbelager blieb, ist die Behandlung der polnischen Gefangenen ein positives Beispiel dafür, was auch für diese beiden Gefangengruppen hätte erreicht werden können, wenn die politische und militärische Führung des NS-Staates mit Adolf Hitler an der Spitze auf den Erlass verbrecherischer Befehle in Bezug auf ihre Behandlung verzichtet hätte.
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Jens Nagel (Gedenkstättenleiter)
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