"Wehret den Anfängen!" Aber welchen?
15.07.2013
„Wehret den Anfängen!“ ist ein geflügelter Ausspruch, wenn es um die Warnung vor gefährlichen politischen Entwicklungen geht. Der Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und die Auseinandersetzung um das Versagen von Polizei und Geheimdiensten in Bezug auf die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), wie auch ein Verbot der NPD, nehmen in der Öffentlichkeit breiten Raum ein. Bezüglich der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur fordert eine vom Bundestag am 27. Juni 2013 verabschiedete Entschließung, deren Aufarbeitung fortzuführen, um antidemokratischen Kräften und Tendenzen zu einer Verklärung der DDR entgegenzutreten.
Besonderes Gewicht wird dabei den historisch authentischen Orten, den Gedenkstätten beigemessen. Doch im Zentrum der Gedenkstättenarbeit stehen die Verbrechen unter totalitärer Herrschaft und ihre Opfer. Aber können Aufklärung und Aufarbeitung bei der moralischen Verurteilung der Diktaturen, bei der Beschreibung des Unrechts und der Verbrechen und bei der Bekämpfung von „Ewiggestrigen“ mit Mitteln des Strafrechts stehenbleiben? Wäre es nicht mindestens ebenso wichtig, die politischen, aber auch sozioökonomischen Entwicklungen zu vergegenwärtigen, die z. B. zum Zusammenbruch des demokratischen Rechtsstaats und zur Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur geführt haben?
Wie kam es eigentlich, dass die nationalsozialistische Partei (NSDAP) zwischen 1930 und 1933 in kürzester Zeit von einer Splitterpartei zur stärksten parlamentarischen Kraft wurde? Von zentraler Bedeutung dürfte neben anderen Gründen gewesen sein, dass es den regierenden Parteien nicht gelang, die durch den Börsencrash vom 24. Oktober 1929 ausgelöste Weltwirtschaftskrise zu beenden und die damit verbundenen Probleme zu lösen. Untragbare Staatsverschuldung, Inflation und Bankenkrise führten zum Zusammenbruch des Finanzsystems und schädigten die Realwirtschaft in bis dahin unbekanntem Maße. Viele Menschen verloren die Hoffnung, dass die regierenden Politiker sie von ihren existenziellen Sorgen und Ängsten befreien würden und setzten ihre Hoffnung erst dann auf die radikalsten Gegner der Weimarer Republik – auf Nationalsozialisten und Kommunisten.
Vor oberflächlichen Parallelen soll man sich hüten. Aber angesichts dessen, dass die Staatsverschuldung in der westlichen Welt heute weitaus höher als 1929 liegt, der Bankensektor alles andere als solide ist, die Notenbanken in nie dagewesenem Umfang die Geldmengen drastisch ausweiten und das Weltfinanzsystem sich in einer tiefen Krise befindet – Wäre da nicht zu fragen, ob ausreichend Lehren aus dem Scheitern parlamentarischer Demokratien und ihren politisch-ökonomischen Ursachen gezogen worden sind? Es ist wichtig, die Menschen anhand der Geschichte der Diktaturen und ihrer Verbrechen gewissermaßen ex negativo für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu sensibilisieren. Damit sie sich für die Bewahrung dieser Werte engagieren, zählt aber vor allem, dass sie in der Gegenwart erlebt und praktiziert werden. Verdienen diese Aspekte nicht mehr Beachtung, wenn es darum geht, den Anfängen zu wehren?
Dr. Bert Pampel