#Kalenderblatt – Der Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren und die Rolle der Militärjustiz
22.06.21
Heute vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, begann die deutsche Wehrmacht unter dem Codewort „Barbarossa“ den Krieg gegen die Sowjetunion. Innerhalb weniger Monate sollte Moskau erreicht und das Land besiegt sein. Dazu kam es nicht. Geplant war die „Eroberung von Lebensraum im Osten“ für die Deutschen. Der Tod von Millionen sowjetischer Soldaten und Zivilisten war dafür von Anfang an vorgesehen. Mit 25 Millionen Opfern hatte die Sowjetunion am Ende des Krieges die meisten Toten des Zweiten Weltkriegs zu verzeichnen. Die Militärjustiz der deutschen Wehrmacht war ein wichtiger Bestandteil des in der Geschichte einmaligen völkermörderischen Vernichtungskrieges und Raubzuges.
Die besondere Rolle der Militärjustiz in diesem Krieg zeigt unter anderem der „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“. Mit diesem Erlass legte die Wehrmacht noch vor Kriegsbeginn, am 13. Mai 1941, fest, dass Kriegsverbrechen von deutschen Soldaten an sowjetischen Zivilisten nur in Ausnahmefällen von den deutschen Militärgerichten verfolgt werden sollten. Ein Wehrmachtsoldat, der sowjetische Zivilisten als angebliche „Partisanen“ oder zur „Vergeltung“ tötete, wurde im Regelfall nicht vor ein deutsches Kriegsgericht gestellt und musste keine Konsequenzen für seine Verbrechen fürchten. Auf Geheiß eines Offiziers konnten so sowjetische Bürger erschossen werden, wenn sie einer Tat gegen Wehrmachtsangehörige bloß verdächtig waren. Nur ganz wenige deutsche Soldaten weigerten sich, solche verbrecherischen Befehle auszuführen: „… aber wie ich auf Frauen und Kinder schießen sollte (…) habe ich gesagt: ‘Das ist Mord’“, erinnerte sich später Lothar Pfeiffer, der für seine Verweigerung von einem Kriegsgericht der Wehrmacht zum Tod verurteilt wurde und nur knapp überlebte.
Die deutsche Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg stand vollkommen im Dienste des Vernichtungskrieges: Sie ließ Kriegsverbrechen der deutschen Soldaten straffrei, während sie diejenigen hart bestrafte, die diese Verbrechen nicht ausüben wollten.
Der Vernichtungswille schloss auch den Massenmord an den Juden im deutschen Machtbereich ein. Die Einsatzgruppen erschossen im Verbund mit der Wehrmacht von Anfang an zuerst jüdische Männer, bald auch Frauen und Kinder. Jakov Shepetinski war einer von den Hunderttausenden, die nur deshalb direkt sterben mussten, weil sie Juden waren. Seine Familie wurde im belarussischen Dorf Chepelovo von Deutschen erschossen, er selbst überlebte und konnte aus einem Massengrab entkommen. Shepetinski schloss sich den sowjetischen Partisanen und der Roten Armee an, mit der er im April 1945 Berlin befreite.
Jakov Shepetinski gehörte dann zu den vielen sowjetischen Soldaten, die dem übersteigerten Misstrauen der sowjetischen Sicherheitsbehörden in der Sowjetischen Besatzungszone zum Opfer fielen. Verdächtigt der Spionage, wurde er in Neuruppin von einem sowjetischen Militärtribunal zu 10 Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Isolation und Misshandlungen erfuhr er in mehreren Gefängnissen, darunter auch im Speziallager Nr. 10 in Torgau.
Das sowjetische Speziallager Nr. 10 war im Mai 1946 im Fort Zinna eingerichtet worden. Hier waren viele sowjetische Soldaten und Zivilisten wie Shepetinski inhaftiert. Sie warteten in dem Durchgangslager einige Tage oder Wochen auf ihren Abtransport in ein Lager im Inneren der Sowjetunion. Shepetinskis Transport startete im Februar 1947 vom Torgauer Bahnhof aus. Ein Fluchtversuch scheiterte und er musste bis 1954 in verschiedenen sowjetischen Lagern, dem Gulag, in Sibirien verbringen. Im Jahr 1966 konnte er nach Israel ausreisen. 2003 besuchte er Torgau und die heutige JVA.
Jakob Shepetinski starb im September 2020. Er war einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust und einer der wenigen, die den unbedingten rassistischen Vernichtungswillen der Deutschen und die ideologische politische Verfolgung durch die Sowjetunion überlebten.
(Das Kalenderblatt wurde verfasst von Robert Parzer)
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