Juli 2014
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
am 7. Juni 2014 berichtete der SPIEGEL über den erfolgreichen Versuch des norddeutschen Klempnermeisters Gerhard Schulz, das Schicksal seines im März 1945 verschollenen Vaters zu klären. Dieser war damals aus der Wohnstube zu Hause in Raumerswalde an der Warthe (heute Roszkowice) von sowjetischen Uniformierten abgeholt worden und nie wiedergekehrt. Jahrelange Bemühungen um Klärung seines Verbleibs blieben erfolglos.
Einen entscheidenden Beitrag zur Aufklärung leistete schließlich die Dokumentationsstelle Dresden der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Sie ist seit 2008 vom Auswärtigen Amt mit der Wahrnehmung von Aufgaben bei der Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer strafrechtlich-politischer Verfolgung betraut. Dies umfasst insbesondere Beratung und Bereitstellung von Informationen über die Rehabilitationsverfahren, Entgegennahme, Übersetzung und Weiterleitung von Anträgen auf Rehabilitierung an die zuständigen russischen Stellen, Rücksendung der Rehabilitierungsbescheide und Unterstützung bei der Akteneinsicht in russische Aktien. Seitdem hat die Dokumentationsstelle tausende Auskünfte an Privatpersonen, Wissenschaftler und staatliche Einrichtungen in Deutschland geben können. Und so erfuhr Gerhard Schulz, dass sein Vater, der einfaches Mitglied der NSDAP war, erschossen wurde und zugleich auch, dass die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft inzwischen zu dem Schluss gekommen ist, dass dies unrechtmäßig war.
Ebenso unrechtmäßig, ja verbrecherisch war jener der sowjetischen Besatzung Ostdeutschlands vorangehende deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die daraus folgende Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in deutschem Gewahrsam. Von den insgesamt ca. 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen kam mindestens die Hälfte ums Leben, ca. 370.000 davon in Lagern auf deutschem Reichsgebiet. Auch nach ihnen suchen noch heute Angehörige und auch ihnen hilft oft die Dokumentationsstelle in Dresden. Im Rahmen eines seit dem Jahr 2000 von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderten Projekts werden Registrierungsunterlagen des deutschen Kriegsgefangenenwesens zu den sowjetischen Kriegsgefangenen, die vor allem in russischen Archiven lagern, erschlossen. Insgesamt wurden bisher rund 60.000 gefangene Offiziere sowie 840.000 Soldaten und Unteroffiziere erfasst. Etwa 2 Millionen Dokumente, Karteikarten und Friedhofsunterlagen wurden verscannt. Auf dieser Basis beantwortet die Dokumentationsstelle seit November 2009 Monat für Monat durchschnittlich mehrere hundert Anfragen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR, aber auch aus vielen anderen Ländern.
Deutsche Opfer sowjetischer Repressionen in der Nachkriegszeit und sowjetische Kriegsgefangene als Opfer des Vernichtungskrieges der Wehrmacht sollten nicht in einen Topf geworfen oder gegeneinander aufgerechnet werden. Im Geiste der humanitären Verpflichtung zur Klärung ihres Schicksals jedoch gehören die entsprechenden Projekte zusammen. Hierzu haben sich die Bundesregierung und Russland mehrfach bekannt. Wird dieses Grundprinzip der Beiderseitigkeit jedoch verletzt, so werden Einschränkungen bei der Auskunft in einem Bereich nicht ohne Folgen für die Fortführung der Aktivitäten im anderen bleiben.
Ich lade Sie herzlich zur Lektüre des Newsletters sowie zum Besuch unserer Gedenkstätten ein und wünsche Ihnen erholsame Sommerferien
Bert Pampel
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16.07.2014 | Gedenkstätte Bautzen - Kino im Freihof: "Sein oder Nichtsein"
Beim "Kino im Freihof", der alljährlichen Sommer-Veranstaltungsreihe der Gedenkstätte Bautzen gemeinsam mit dem Steinhaus Bautzen e.V., wird der Film "Sein oder Nichtsein" von Ernst Lubitsch gezeigt. Eine Gruppe polnischer Schauspieler schließt sich im Jahr 1939 einer Widerstandsbewegung an. Einzig und allein Shakespeares Hamlet darf noch auf dem Spielplan erscheinen. Um zu verhindern, dass die Schauspielgruppe als Untergrundorganisation auffliegt, zieht das Ensemble alle Register der Schauspielkunst und führt die ganze Nazi-Truppe an der Nase herum.
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Iran 1979 – Marjane ist acht Jahre alt, als der Schah ins Exil getrieben wird. Marjanes Familie erhofft sich von der Islamischen Revolution Aufbruchsstimmung, die neuen Machthaber treiben jedoch die Islamisierung voran, unterdrücken Familien und fordern von Frauen das Tragen von Kopftüchern. Marjane rebelliert auf ihre Weise, hört Hard Rock und trägt Punk-Klamotten, ohne die Gefahr ihres kindlichen Protestes zu bemerken.
> Mehr30.07.2014 | Gedenkstätte Bautzen - Kino im Freihof: "Hannas Reise"
Die ehrgeizige BWL-Studentin Hanna bewirbt sich in einer Berliner Unternehmensberatung, bis sie bemerkt, dass eine wichtige Komponente in ihrem Lebenslauf fehlt: soziales Engagement. Da ihre Mutter eine Friedens-Aktion für Israel leitet, erhofft sich Hanna eine gefälschte Bescheinigung für ihren Freiwilligendienst. Doch die Mutter weigert sich, und so muss Hanna den Dienst antreten und nach Tel Aviv reisen.
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14.07.2014 | Schullesungen mit dem Zeitzeugen und Autor Sally Perel
Sally Perel floh als deutscher Jude 1939 in den sowjetisch besetzten Teil Polens, wo er kurz nach dem Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion von der Wehrmacht aufgegriffen wurde. Den Wehrmachtssoldaten gegenüber gab er sich als Volksdeutscher aus und kam durch Vermittlung eines ihm wohlgesonnenen Wehrmachtsoffiziers zur Akademie der Jugendführung der Hitlerjugend nach Braunschweig. Aus den Erinnerungen an diese Zeit entstand das Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“. Seit vielen Jahren besucht Sally Perel auf seinen Lesereisen vor allem Schulen, um den Jugendlichen von seiner Zeit in der Hitlerjugend und den Erfahrungen im Dritten Reich zu berichten. Nun führte ihn eine dieser Reisen nach Großenhain und Meißen.
> Mehr02.07.2014 | Hohe Auszeichnung für früheren Stiftungsgeschäftsführer Norbert Haase
Am 2. Juli 2014 überreichte der Botschafter der Republik Polen in Deutschland, Jerzy Margański, dem früheren Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dr. Norbert Haase, das Kavalierkreuz des Verdienstordens der Republik Polen. Es war ihm vom polnischen Staatspräsidenten in Anerkennung seiner Verdienste um die Bewahrung der Erinnerung an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges verliehen worden.
> Mehr03.07.2014 | Satzung für Stiftung Sächsische Gedenkstätten unterzeichnet
Sachsens Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Sabine von Schorlemer, die zugleich Vorsitzende des Stiftungsrates ist, hat eine vom Stiftungsrat der Stiftung am 12. Mai 2014 beschlossene Satzung für die Stiftungsarbeit unterzeichnet und diese somit in Kraft gesetzt.
> Mehr25.06.2014 | Stiftung Sächsische Gedenkstätten gratuliert Uwe Schwabe zum Deutschen Nationalpreis
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hat die Deutsche Nationalstiftung die Leipziger Montagsdemonstranten und ihre Vorläufer gewürdigt. Der Deutsche Nationalpreis wurde in Berlin an drei herausragende Akteure des Herbstes 1989 verliehen, darunter an den Leipziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe, der Mitglied des Stiftungsrates ist.
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27.05.2014 | Bürgerschaftliches Engagement für würdiges Erinnern an verstorbene Kinder von NS-Zwangsarbeiterinnen in Dresden
Zehntausende Kinder ziviler Zwangsarbeiterinnen, die meisten von ihnen aus Osteuropa, kamen während des Zweiten Weltkrieges im nationalsozialistischen Deutschland zur Welt. Da ihre Mütter in der Rüstungsindustrie und der Landwirtschaft dringend gebraucht wurden, waren sie von den NS-Bürokraten unerwünscht. So überlebten die meisten von ihnen wegen mangelnder Versorgung die ersten Lebensmonate nicht.
1943 wurde im Dresdner Norden ein „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ eingerichtet. Von 1943 bis 1945 starben allein hier 296 Kinder. 225 dieser Kinder ruhen auf dem nahe gelegenen St.-Pauli-Friedhof.
Seit 2008 gibt es bürgerschaftliche Bemühungen mit dem Ziel, gemeinsam mit der Landeshauptstadt Dresden die Grabanlage dieser Säuglinge würdig zu gestalten und durch Nennung der Namen und Lebensdaten an das Schicksal dieser Kinder und ihrer Eltern zu erinnern. Am 27. Mai 2014 stellten Schüler mehrerer Dresdner Schulen und Bildungseinrichtungen ihre Ideen für die Neugestaltung der Kindergrabanlage im Rahmen einer Pressekonferenz vor.
18.06.2014 | Internationale Konferenz mahnt: Zeit für Europa aufzuwachen!
Die zweitägige internationale Konferenz „Das Erbe des Totalitarismus in Europa“, organisiert von der Platform of European Memory and Conscience und ausgerichtet von Miluše Horská, der Vizepräsidentin des Parlaments der Tschechischen Republik, brachte 25 Jahre nach dem Untergang des Kommunismus besorgniserregende Entwicklungen über die Qualität der Demokratie in Mittel- und Osteuropa ans Licht.
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18.06.2014 | Kritikern gehen Gedenkort-Pläne nicht weit genug
Über den geplanten Gedenkort am Rande des Chemnitzer Kaßberg-Gefängnisses informiert nun eine Tafel.
> Mehr19.06.2014 | Stasi-Beauftragter Jahn erinnert sich: Gedenkstätten arbeiten alle Facetten der Geschichte auf
Bericht über eine Podiumsdiskussion von Amnesty International in Münster unter Mitwirkung von Roland Jahn (BStU), Prof. Alfons Kenkmann (Leipzig) und Stiftungsgeschäftsführer Siegfried Reiprich.
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Artikel über ein Projekt des DIZ Torgau mit Schülern des Johann-Walter-Gymnasiums Torgau zum Thema »Schutzhaft« im Nationalsozialismus.
> Mehr03.07.2014 | „Das Essen steht im Kühlschrank“
Das dritte sächsische Geschichtscamp vom 23. bis 27. September wirft seine Schatten voraus: Ganz im Zeichen der Friedlichen Revolution stehend werden auch in diesem Jahr geschichtsbegeisterte Schüler aus ganz Sachsen erwartet.
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12. Juli 1941 | Ankunft des ersten Transports sowjetischer Gefangener im Kriegsgefangenenlager Zeithain
Auf Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) entstand ab April 1941 unmittelbar am Bahnhof Jacobsthal das Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager (Stalag) 304 (IV H) Zeithain. Es war eines von 14 sogenannten Russenlagern für die Unterbringung sowjetischer Kriegsgefangener im Deutschen Reich. Diese Lager wurden im Zuge der Vorbereitung des am 22. Juni 1941 beginnenden Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion neu gebaut. Entgegen dem völkerrechtlichen Verbot, Kriegsgefangene auf militärischen Liegenschaften unterzubringen, entstand es auf einer Teilfläche des Truppenübungsplatzes Zeithain.
Ab dem 12. Juli 1941 trafen die ersten Eisenbahntransporte mit sowjetischen Gefangenen in schneller Folge am Bahnhof Jacobsthal ein, bis zum 8. August mindestens 16 Transporte aus vier verschiedenen „Russenlagern“ im besetzten Polen. Durchschnittlich 2 000 Gefangene, aufgeteilt zu jeweils etwa 40-50 pro Waggon, umfasste ein solcher Transport. Die eintreffenden Gefangenen wurden zur Registrierung zwischen dem Stalag 304 (IV H) und dem benachbarten Stalag IV B Mühlberg aufgeteilt. In der monatlichen Übersicht des OKW vom 10.08.1941 wird die Belegung Zeithains mit 31 955 Gefangenen angegeben.
Der ehemalige Gefangene Nikolaj Gutyrja schilderte das Martyrium seines Eisenbahntransports nach Zeithain im Juli 1941 später so: „Das in den Waggons Durchlebte lässt sich kaum mit Worten beschreiben. [...] in jedem Waggon starben zum Tode verurteilte Menschen an Blutverlust, Wundstarrkrampf, Blutvergiftung, vor Hunger, Wasser- und Luftmangel sowie anderen Entbehrungen. Stöhnen, Fluchen, tiefe Seufzer der Sterbenden, Fieberwahn, Sehnsucht nach der Heimat [...]“ Der deutsche Kommandant des Vorlagers, Hauptmann Karl Zerbes erinnerte sich: „Es kam immer wieder vor, dass[...] die auf den Transporten an Entkräftung und Hunger gestorbenen Kriegsgefangenen von den eigenen Leuten aufgeschnitten, deren Leber, Lunge und Milz herausgerissen und gegessen wurden [...]."
Bei Eintreffen der ersten Transporte befand sich das Lager noch im Aufbau. Die Gefangenen waren Tag und Nacht der Witterung ungeschützt ausgesetzt und litten unter der völlig unzureichenden Verpflegung, katastrophalen hygienischen Bedingungen und mangelhafter medizinischer Versorgung. Sie waren gezwungen, sich Erdlöcher zu graben, um sich ein wenig vor der Witterung zu schützen. Geschwächt durch unzureichende Ernährung und schwere körperliche Arbeit verloren tausende Lagerinsassen in den Folgemonaten infolge von Hunger und Infektionskrankheiten ihr Leben.
Am 26. August 1941 besuchte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels begleitet von einer großen Delegation das Lager, um sich den „bolschewistischen Untermenschen“ vorführen zu lassen. In seinem Tagebuch notierte er am Folgetag: „[…] Das Gefangenenlager bietet ein grauenhaftes Bild. Die Bolschewisten müssen zum Teil auf der nackten Erde schlafen. Es regnet in Strömen. […] Man kann bei der Besichtigung eines solchen Gefangenenlagers schon sehr merkwürdige Ansichten über die Menschenwürde im Kriege bekommen.“
Insgesamt sterben bis zum Kriegsende 25 000-30 000 kriegsgefangene Soldaten der Roten Armee in Zeithain. Bis zum Ende 2014 werden die Namen von mehr als 20 000 Opfern erstmals für diese Opfergruppe in ganz Europa dauerhaft auf vier Kriegsgefangenenfriedhöfen verzeichnet sein.
Foto: Kriegsgefangene warten im Vorlager nach Ihrer Ankunft auf die Registrierung, im Hintergrund ist der Bahnhof Jacobsthal zu erkennen, 1941/42. Archiv der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.
Zitat des Monats
Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen.
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Frankfurt am Main 1981, S. 144.
Impressum
Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Dülferstraße 1
01069 Dresden
Redaktion: Dr. Julia Spohr
pressestelle@stsg.smwk.sachsen.de
www.stsg.de
Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten erschließt, bewahrt und gestaltet historische Orte im Freistaat Sachsen, die an die Opfer politischer Verfolgung sowie an Opposition und Widerstand während der nationalsozialistischen Diktatur oder der kommunistischen Diktatur in der SBZ/DDR erinnern.
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