Januar 2015
Liebe Leserinnen und Leser,
Seit Wochen demonstrieren in Dresden Tausende unter der Losung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA). Sollten sich Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktatur dazu positionieren?
Ihre Aufgabe ist es, an die Opfer zu erinnern, Mitgefühl für sie zu wecken und ihre Leidenserfahrungen zu bewahren und weiterzugeben. Darüber hinaus soll die Auseinandersetzung mit der Geschichte jedoch in eine Sensibilisierung für gesellschaftliche Entwicklungen und für individuelle Voraussetzungen münden, die die Verbrechen ermöglichten. Vergleiche zwischen Vergangenheit und Gegenwart stehen dabei allerdings immer in der Gefahr, schief zu sein und unhistorisch. Also empfiehlt es sich, genau hinzuschauen.
Eine Protestbewegung von rechts oder auch von links kann Erinnerungen an die 20er- und 30er-Jahre wecken. Die Abgrenzung von anderen, das Dagegen-Sein und die Suche nach Sündenböcken sind schon immer ein starker, einender Kit für Massenbewegungen gewesen. Zugleich bedarf es für eine Verführung von Massen der Anknüpfung an reale oder zumindest als real empfundene Problemlagen, einer „Wahrnehmung von Verfall und Niedergang, (…) ein sichtbar drohendes Übel oder das existenzielle Erschrecken vor einer verheerenden Bedrohung im Diesseits“. (Lothar Fritze, „Anatomie totalitären Denkens“, 2012, S. 119) Fast die Hälfte der Deutschen machte die NSDAP 1932 nicht zur stärksten Partei wegen ihres Antisemitismus, sondern weil es der Politik u. a. nicht gelang, die mit der Weltwirtschaftskrise verbundenen Probleme zu lösen.
Dass es zur Einwanderungspolitik der Bundesrepublik seit Jahren Diskussions- und Regelungsbedarf gibt, weiß man spätestens seit dem Erfolg von Thilo Sarrazins umstrittenem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Heinz Buschkowsky, der SPD-Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, wo Migranten fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, beklagte Ende 2014 im Museums-Magazin des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, PEGIDA vorausahnend: „Jeder, der die Verwerfungen und Defizite [der Einwanderungspolitik – B.P.] offen ausspricht, wird niedergemacht. Schulrektoren, Lehrer, Erzieher werden öffentlich gebrandmarkt. Bestimmte Themen werden einfach unter den Teppich gekehrt. Sie sind nicht existent. Aber irgendwann wird der Druck im Kessel so groß, dass er sich mit Gewalt seine Bahn sucht. Dann werden alle erschrocken sein und keiner kann sich das erklären. Volksparteien müssen aufpassen, dass ihnen nicht das Volk abhandenkommt.“
Differenzierte Annäherungen an PEGIDA, wie die Gesprächsangebote des Leiters der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung Frank Richter und die Analysen des Dresdner Politikprofessors Werner Patzelt (siehe auch die MDR- Sendung „Fakt ist …!“) legen jedoch nahe, dass es Vielen inzwischen um weit mehr als um Asyl- und Einwanderungspolitik geht. Deshalb sind nicht nur Wachsamkeit und Bekenntnisse zu Weltoffenheit, Willkommenskultur und Toleranz notwendig, sondern Zuhören und die Lösung von „Umsetzungsdefiziten“ (Markus Ulbig, Sächsischer Innenminister).
Bert Pampel
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27.01.2015 | Veranstaltung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
Vor 75 Jahren begannen die nationalsozialistischen Morde an Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Allein in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein wurden in den Jahren 1940 und 1941 insgesamt 14.751 der Schwächsten und Hilflosesten ermordet. Am 27. Januar 2015 jährt sich zum 70. Mal die Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz durch Truppen der Roten Armee. An diesem Tag, der in der Bundesrepublik seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen wird, möchten die Stiftung Sächsische Gedenkstätten und das Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. in einer Gedenkstunde an die Dresdner Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde erinnern.
> Mehr27.01.2015 | Gedenkfeier der Landeshauptstadt Dresden zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus
Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus veranstaltet die Landeshauptstadt Dresden eine Gedenkfeier. Im Anschluss an die Feierstunde lädt die Gedenkstätte Münchner Platz zu einer Informationsveranstaltung zum NS-Säuglingslager „Kiesgrube“ ein. Zwischen 1943 und 1945 starben in diesem Lager am Hammerweg 225 Kinder polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiterinnen, die meisten waren Säuglinge. Auf dem St.-Pauli-Friedhof in Dresden soll nun durch bürgerschaftliches Engagement mit Hilfe interessierter Schülerinnen und der Stadt Dresden, finanziert durch den Freistaat Sachsen, eine würdige „Kindergrabanlage“ entstehen.
> Mehr27.01.2015 | Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am DIZ Torgau
Auch das Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau gedenkt an diesem Tag der Opfer des Nationalsozialismus in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Stadt Torgau, dem Johann-Walter-Gymnasium Torgau und dem Beruflichen Schulzentrum Torgau. Die Gäste erwartet ein kleines Programm mit anschließendem Empfang und Besichtigung der Fotoausstellung des Beruflichen Schulzentrums.
16.01.2015 | Wanderausstellung der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau ist bis 8. April in der BStU Außenstelle Neubrandenburg zu sehen
Die Wanderausstellung "ZIEL: UMERZIEHUNG" der Gedenkstätte Gschlossener Jugendwerkhof Torgau ist vom 14. Januar bis 8. April 2015 in der BStU Außenstelle Neubrandenburg zu sehen. Die Ausstellung informiert die Besucher über das System der Spezialheime in der DDR. Neben Informationen zu den einzelnen Umerziehungseinrichtungen anhand von Fotos, Dokumenten und Begleittexten, werden verschiedene Einzelschicksale ehemaliger DDR-Heimkinder vorgestellt.
> MehrNeues aus der Arbeit der Stiftung und ihrer Gedenkstätten
16.12.2014 | Plattform-Vorstand traf EU-Bildungskommissar in Brüssel
Am 11. Dezember haben sich Vertreter der Plattform für Europäisches Gedächtnis und Gewissen mit dem EU-Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Sport, Tibor Navracsics, im Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel getroffen. Seitens der Plattform nahmen die Verwaltungsdirektorin Neela Winkelmann (Prag) und die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands, Siegfried Reiprich (Dresden), Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, sowie Zsolt Szilágyi (Oradea), Leiter des Stabes des Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Lászlo Tökés, teil. In dem Gespräch ging es u.a. um die Frage der juristischen Würdigung bzw. Anklage nicht verjährter kommunistischer Verbrechen wie Mord und Folter auf der europäischen Ebene.
> Mehr30.12.2014 | Neue Bände der Schriftenreihe »Auf Biegen und Brechen« der Gedenkstätte GJWH Torgau sind erschienen
Verschiedene Aufarbeitungsprojekte, aktuelle Forschungsergebnisse sowie Einzelschicksale von Betroffenen publiziert die Gedenkstätte in ihrer Schriftenreihe »Auf Biegen und Brechen«. Zu den bisher erschienenen vier Bänden wurden im Dezember 2014 noch zwei weitere Bände veröffentlicht, die sich zum einen mit dem Arbeits- und Erziehungslager Rüdersdorf und zum anderen der Gruppe der Funktionärskinder im System der Spezialheime beschäftigen. „Durchschnittlich intelligent und sehr vergammelt. Das illegale Arbeits- und Erziehungslager 1966/1967 in Rüdersdorf“ von Rainer Buchwald und Dr. Christian Sachse lautet die erste Neuerscheinung. Durch das Engagement von Rainer Buchwald, einem Betroffenen und Zeitzeugen, konnte das Arbeits- und Erziehungslager Rüdersdorf als ein Repressionsmittel der DDR-Jugendhilfe vor dem Vergessen bewahrt werden. Die nun von Dr. Christian Sachse vorgelegten Forschungs- und Rechercheergebnisse liefern eine erste detaillierte Bestandsaufnahme.
Das zweite durch die Gedenkstätte unterstütze Forschungsprojekt von Marcel Piethe trägt den Titel „Funktionärskinder - Formen staatlicher Repressionen im Kontext der Funktionseliten in der DDR“. Ausgehend von ausgewählten Fallbeispielen wird in der Publikation untersucht, unter welchen Umständen und aufgrund welcher Anlässe die Einweisung der DDR-„Funktionärskinder“ in Kinderheime sowie Jugendwerkhöfe erfolgte.
Rückblick
25.11.2014 | Stiftungsrat zum ersten Mal in der Gedenkstätte Jugendwerkhof
Der Stiftungsrat der Stiftung Sächsische Gedenkstätten kam mit Eva-Maria Stange, der neuen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, erstmals seit Stiftungsbestehen in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau zusammen.
> Mehr29.12.2014 | "Hinter Gittern"
Bericht über einen Projekttag der Oberschule Nordwest - Torgau in der JVA und im DIZ Torgau.
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Michael Gartenschläger (1944 - 1976)
Michael Gartenschläger wurde am 13. Januar 1944 in Strausberg geboren. Nach dem Schulabschluss begann er 1959 eine Lehre als Kfz-Schlosser in Strausberg. Bereits als Jugendlicher opponierte er gegen gegen das DDR-Regime, gründete im April 1960 mit anderen Jugendlichen einen Fanclub des westdeutschen Rock ´n Roll-Sängers Ted Herold, protestierte gegen die Absperrung West-Berlins am 13. August 1961 und setzte mit Freunden als Fanal gegen den Mauerbau eine LPG-Feldscheune in Brand. Am 19. August 1961 wurden die fünf Jugendlichen verhaftet und in die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Frankfurt (Oder) gebracht. In einem Schauprozess vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) im Kulturhaus der Nationalen Volksarmee in Strausberg wurden Michael Gartenschläger und der Mitangeklagte Gerd Resag wegen »Diversion im schweren Fall«, »staatsgefährdender Gewaltakte«, »staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall« am 15. September 1961 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Nach Zwischenstationen in weiteren Haftanstalten wurde Michael Gartenschläger im Oktober 1961 in die Strafvollzugsanstalt Torgau im Fort Zinna eingeliefert. Nach zwei Ausbruchsversuchen wurde er im Sommer 1965 in die Strafvollzugsanstalt Brandenburg überführt. Am 5. Juni 1971 wurde Michael Gartenschläger nach Freikauf durch die Bundesregierung entlassen und in den Westen abgeschoben. Mit dem Grenzregime fand er sich jedoch auch nach der Entlassung nicht ab. Als Fluchthelfer ermöglichte er insgesamt 31 Menschen – darunter auch ehemalige Häftlinge – die DDR zu verlassen. Am 30. März 1976 demontierte er einer Splittermine (SM 70) an der innerdeutschen Grenze. In der Nacht zum 23. April gelang ihm das ein zweites Mal. Die Verwendung dieser Selbstschussanlagen hatte die DDR-Führung zuvor stets geleugnet. Beim dritten Versuch, eines dieser Geräte zu demontieren, wurde er in der Nacht des 30. April 1976 von einem Sondereinsatzkommando des MfS erwartet und erschossen.
> MehrZitat des Monats
Das Problem ist, dass wir zu viel in die seichte jüngste Geschichte hineininterpretieren, mit Aussagen wie "so was ist noch nie passiert", aber nicht aus der Geschichte im Allgemeinen Schlüsse ziehen (Dinge, die in einem Bereich noch nie zuvor geschehen sind, passieren zumeist irgendwann doch). Mit anderen Worten: Die Geschichte lehrt uns, dass Dinge, die niemals zuvor geschehen sind, passieren können. Außerhalb eng definierter Zeitreihen kann sie ein großartiger Lehrmeister sein; je weiter wir unseren Blick schweifen lassen, desto besser sind die Lektionen, die wir lernen können. Anders ausgedrückt lehrt uns die Geschichte, jenen naiven Empirismus zu vermeiden, der sich lediglich darauf konzentriert, Schlüsse aus zufälligen historischen Fakten zu ziehen.
Nassim Nicholas Taleb, Narren des Zufalls. Die verborgene Rolle des Glücks an den Finanzmärkten und im Rest des Lebens, Weinheim 2002, S. 128
(Foto: „Taleb mug“ von Sarah Josephine Taleb, Wikimedia Commons )
Impressum
Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Dülferstraße 1
01069 Dresden
Redaktion: Dr. Julia Spohr
pressestelle@stsg.smwk.sachsen.de
www.stsg.de
Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten erschließt, bewahrt und gestaltet historische Orte im Freistaat Sachsen, die an die Opfer politischer Verfolgung sowie an Opposition und Widerstand während der nationalsozialistischen Diktatur oder der kommunistischen Diktatur in der SBZ/DDR erinnern.
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