Dezember 2014
Liebe Leserinnen und Leser,
am 4. Dezember 1989 wurden die Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit in Erfurt, Leipzig und Rostock von Demonstranten friedlich besetzt, weil sich die Nachricht verbreitet hatte, die Stasi vernichte Akten. Am nächsten Tag, dem 5. Dezember, legten auch in Dresden couragierte Bürger dem „Schild und Schwert der Partei“ das Handwerk der Unterdrückung durch Bespitzelung, Zersetzung, Verhaftung. Es war der Anfang vom Ende des „VEB Horch, Guck und Greif“, wie der Volksmund die Stasi treffend bezeichnete, auch bekannt als „die Firma“. „Die Partei“, also die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), war sozusagen die hundertprozentige Eignerin dieser Firma, und nur wenige friedliche Revolutionäre konnten sich vorstellen, dass nicht auch sie am Ende war. Zumal viele ein Verbot der SED forderten, zum Beispiel die Thüringer Theologin Christine Lieberknecht. Und die war beileibe keine „Antikommunistin mit Schaum vor dem Mund“. Ein Verbot schien nur logisch zu sein.
Die weitere Geschichte ist bekannt. Weniger bewusst ist der Öffentlichkeit, dass die heutige Partei „Die Linke“ sich vom Berliner Landgericht bestätigen ließ, nicht nur Rechtsnachfolgerin der SED, sondern als juristische Person mit dieser identisch zu sein. Auch vor diesem Hintergrund ist es schon bemerkenswert, dass exakt 25 Jahre nach den revolutionären Ereignissen vom 4. Dezember 1989 in Erfurt im Thüringer Landtag die Wahl des ersten Ministerpräsidenten eines ostdeutschen Landes erfolgte, der der Partei „Die Linke“ angehört.
„Ironies of history“, Ironien der Geschichte, heißt ein Buch von Isaac Deutscher, das 1966 als Sammlung von Essays über den „zeitgenössischen Kommunismus“ erschien. Das war vor knapp einem halben Jahrhundert, die Besetzung der Stasizentralen vor einem Vierteljahrhundert und die Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten Thüringens vor wenigen Tagen.
Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft hat nicht die Aufgabe, Tagespolitik zu kommentieren oder gar intellektuelle Kurzschlüsse aus der Erinnerung an die Vergangenheit auf das Heutige zu befördern. Gleichwohl bleibt es ihre Aufgabe, die nationalsozialistische- und die kommunistische Diktatur aufzuarbeiten, zu verstehen, wie politische Gewaltherrschaft beginnt, wie sie endet und welches Erbe sie hinterlässt. Denn gerade den nachfolgenden Generationen will sie „ermöglichen, für Menschenwürde, Freiheit, Recht und Toleranz einzutreten und Gefährdungen dieser Grundwerte und der Demokratie wirkungsvoll zu begegnen“ (Präambel des Sächsischen Stiftungsgesetzes). Deshalb unterstützen wir in den Gedenkstätten vor Ort eine Geisteshaltung mündiger Bürger bei Jung und Alt. Denn „wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt“ (Zitat von Hannah Arendt in der o.g. Präambel), das sollten wir alle.
Isaac Deutscher ist ein gutes Beispiel für einen Menschen, der den Mut hatte, dem eigenen Verstand zu trauen. Dieser Intellektuelle aus dem österreichisch-ungarischen Galizien sah vieles klarer als fast alle seine Mitmenschen, und er irrte auch. Ob er richtig lag, als er um die Zeit seiner Bar Mitzwa um „Gott zu prüfen“ am Grabe eines Zadik unkoscheres Essen aß und, als nichts passierte, den jüdischen Glauben aufgab, sei dahin gestellt. Ob seine Schlussfolgerung klug war, sich 1926 der Kommunistischen Partei Polens anzuschließen, darf und sollte bezweifelt werden. Seine Bücher aber, besonders „Die unvollendete Revolution“, kursierten „im Untergrund“ in der DDR und haben sicherlich dazu beizutragen, die SED-Diktatur zu delegitimieren.
Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen für den Jahreswechsel
Siegfried Reiprich
Inhalt |
Neues aus der Arbeit der Stiftung und ihrer Gedenkstätten
18.11.2014 | Gedenkstätte Münchner Platz erweitert Angebot. Vor allem tschechische Besucher im Blick
Am 11. Oktober 2014 konnte die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden eine besondere Besuchergruppe aus der Tschechischen Republik begrüßen. Neben Angehörigen von hingerichteten Widerstandskämpfern und Vertretern des tschechischen Opferverbandes waren Lokalhistoriker darunter, die die Erinnerung an Hinrichtungsopfer pflegen und dokumentieren. Die meisten von ihnen kamen zum ersten Mal nach Dresden.
> Mehr04.12.2014 | Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten für weitere sieben Jahre im Amt bestätigt
Der Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Siegfried Reiprich, ist von der Sächsischen Staatsregierung für weitere sieben Jahre in seinem Amt bestätigt worden. Damit ist das Kabinett in seiner Sitzung vom 26. August dem einstimmigen Beschluss des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten vom 12. Mai gefolgt.
> Mehr05.12.2014 | Aufruf: Bautzener Zeitzeugen zum Gefangenenaufstand im "Gelben Elend" im März 1950 gesucht
2015 jährt sich der Gefangenenaufstand im Bautzener "Gelben Elend" zum 65. Mal. Anlässlich dieses Jubiläums erarbeitet die Gedenkstätte Bautzen derzeit eine neue Ausstellung, die die Geschichte des ersten und größten Häftlingsaufstandes der DDR umfassend darstellt.
> MehrRückblick
20.11.2014 | Das Stasi-Gefängnis Bautzen
Das Webportal deutschland.de der Frankfurter Societäts-Medien GmbH in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt stellt die Gedenkstätte Bautzen und Siggi Grünewald, ehemalige politische Gefangene der Stasi-Sonderhaftanstalt "Bautzen II", mehrsprachig vor.
> Mehr25.11.2014 | Manfred Matthies und der "Memory of Nations Award"
Die MDR-Sendereihe "Geschichte Mitteldeutschlands" berichtet über Manfred Matthies, ehemaliger Fluchthelfer und politischer Gefangener der Stasi-Sonderhaftanstalt Bautzen II, und dessen Ehrung mit dem "Memory of Nations Award" vom 17. November 2014.
> MehrBiographie
Dr. Willy Katz - Ein jüdischer Arzt in Dresden
Dr. Willy Katz war ein in Dresden praktizierender jüdischer Arzt und Sportmediziner. Nach seinem Medizinstudium in Berlin und Wien und seiner nachfolgenden Militärdienstzeit wurde er 1905 Offizier der Reserve. 1909 ließ er sich als praktischer Arzt in Dresden nieder und bezog seine Praxis in der Borsbergstraße. Aufgrund seiner Kriegsverdienste blieb er zunächst von besonders drastischen Folgen der Gesetzgebung gegen jüdische Ärzte – dem Entzug der Kassenzulassung entsprechend der Verordnung des Reichsarbeitsministeriums vom 22. April 1933 – verschont. Zum 30. September 1938 wurde Willy Katz jedoch, wie allen jüdischen Ärzten, die Approbation entzogen. Im selben Jahr, im Zusammenhang mit den Ereignissen der so genannten „Reichskristallnacht“, wurde er gleich zweimal von den Nationalsozialisten interniert. Im Juli 1939 wurde Willy Katz als jüdischer Arzt für die Behandlung der – vorrangig in Rüstungsbetrieben – zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden benannt. Er war nun als einziger jüdischer „Krankenbehandler“ für Dresden zugelassen und durfte seine Praxis behalten. Es begannen Jahre überaus verschleißender, seelisch und körperlich zermürbender und aufreibender Arbeit, denn neben der ambulanten Behandlung der jüdischen Pflichtversicherten wurde er auch zur schulärztlichen Betreuung der Jüdischen Schule verpflichtet, war verantwortlich für die hygienische Überwachung der über 30 „Judenhäuser“ in Dresden und war ärztlicher Betreuer des bis 1942 bestehenden Altersheimes Henriettenstift der jüdischen Gemeinde sowie Lagerarzt des von November 1942 bis März 1943 bestehenden „Judenlagers“ am Hellerberg. In diesem Lager waren jüdische Zwangsarbeiter für die Rüstungsproduktion der Zeiss-Ikon A.G. untergebracht worden, die im Goehle-Werk in der Riesaer Straße arbeiten mussten. In der Nacht vom 3. zum 4. März 1943 wurden alle Insassen des Lagers Hellerberg in die KZ Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt deportiert. Katz oblag die schmerzliche Pflicht, die Betroffenen auf „Gehfähigkeit“ zu untersuchen und sie auch selbst auf der Fahrt zu begleiten. Darüber hinaus war Katz als Jude ohnehin der wachsenden Diskriminierung, Rechtlosigkeit und Isolation im gesamten öffentlichen Leben ausgesetzt. Bei seinen aufreibenden Arbeitsaufgaben unterlag Katz massiven Restriktionen der Gestapo, die ihm für die Versorgung oder gar Rettung der Dresdner Juden nur wenig Spielraum ließen. Dennoch bemühte er sich um die bestmögliche Betreuung seiner Patienten. Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus wurde das Gebäude, in dem sich seine Praxis befand, zur ersten so genannten Poliklinik. Katz wurde leitender Arzt dieser Einrichtung. Von der neuen Landesregierung Sachsens wurde er zum Vertrauensarzt für den damaligen Verwaltungsbezirk Dresden-Striesen und Blasewitz benannt. 1946 nominierte ihn die LPD als Stadtverordneten-Kandidaten und Stadtrat für die Leitung des Städtischen Gesundheitsamtes. Jedoch war Dr. Katz schon im Winter 1945 an einer schweren Lungen- und Rippenfellentzündung erkrankt und verstarb am 13. Januar 1947.
> MehrKalenderblatt / Zitat des Monats
19. Dezember 1989
„Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.“
Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in seiner historischen Rede vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche
Auch diese Station gehört zum Dresdner Revolutionsweg, – beschlossen vom Dresdner Stadtrat – der mittels Gedenktafeln an die Ereignisse vor 25 Jahren zwischen der Friedlichen Revolution und Wiedervereinigung erinnert. Die erste Phase dieses Prozesses war geprägt von der Losung „Wir sind das Volk!“. Mit dem 19. Dezember 1989 begann die zweite Phase der geschichtlichen Umwälzungen in unserem Land, die mit den Losungen „Wir sind ein Volk!“ und „Deutschland einig Vaterland!“ auf Plakaten und in Sprechchören zigtausendfach zum Ausdruck gebracht wurde. Helmut Kohl sagte später in einem Interview, dass ihm angesichts der Plakate, Sprechchöre und Deutschlandfahnen – manche mit herausgeschnittenem DDR-Emblem – der Menschen in Dresden an diesem Abend deutlich geworden wäre, wohin der Zug der Geschichte rollt. Er habe sich in seiner Rede sehr zurückgehalten, um nicht zu sehr Begeisterung bei den Menschen in Dresden oder Ängste bei unseren Nachbarn zu erwecken. Nach dem begeisterten Jubel auf den oben genannten Satz sagte er zu seinen Begleitern: „Das Ding ist gelaufen!“
Foto: Helmut Kohl am 16.9.1990 bei einer Wahlkampfveranstaltung der sächsischen CDU an der Ruine der Frauenkirche, wo er vor neun Monaten seine Ansprache gehalten hatte. (Copyright: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0916-021, Fotograf: Matthias Hiekel)
Impressum
Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Dülferstraße 1
01069 Dresden
Redaktion: Dr. Julia Spohr
pressestelle@stsg.smwk.sachsen.de
www.stsg.de
Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten erschließt, bewahrt und gestaltet historische Orte im Freistaat Sachsen, die an die Opfer politischer Verfolgung sowie an Opposition und Widerstand während der nationalsozialistischen Diktatur oder der kommunistischen Diktatur in der SBZ/DDR erinnern.
Nutzen Sie bitte diese Seite zum Bestellen bzw. Abbestellen des Newsletters.