Der Westen und die Ukraine-Krise
Die Sympathie für die zivilgesellschaftliche Euromaidan-Bewegung gegen die korrupte Regierung Janukowitsch sollte nicht dazu führen, die Augen vor bedenklichen Entwicklungen in der Ukraine zu verschließen. Neben Kritik an Putins Regime in Russland und an der mangelhaften Aufarbeitung dessen totalitärer Vergangenheit, neben Protest gegen die Abspaltung der Krim von der Ukraine sowie gegen die russische Unterstützung für die Föderalisten in der Ostukraine ist auch nach Interessen und Verantwortung der USA und der EU für die Eskalation des Konflikts zu fragen.
Folgen Putins Aktivitäten der Logik, einen Zerfall seines Regimes aufzuhalten, indem er es in einen Kriegszustand mit der Außenwelt versetzt? Das mag sein, nur trifft dies nicht abgewandelt für die Ukraine und den Westen ebenso zu?
Samuel Huntington warnte 1996 in „Der Kampf der Kulturen“ (S. 18): "Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potentiell gefährlichsten Feindschaften begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den großen Kulturen der Welt." Die Ukraine bezeichnete er als gespaltenes Land mit zwei unterschiedlichen Kulturen, geteilt entlang einer historischen Scheidelinie, die seit Jahrhunderten westlich-christliche Völker von orthodoxen Völkern trennt. Hat in diesem Sinne nicht die ukrainische Übergangsregierung ein Interesse an einem antirussischen Feindbild zur Festigung der ukrainischen Identität? Und nicht zufällig ist eine extrem nationalistische Partei ("Swoboda") an der Übergangsregierung beteiligt, von der eine Delegation im Mai 2013 der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag einen Besuch abstattete.
Von einer „friedlichen Revolution“ kann nicht nur angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen und der nach wie vor unaufgeklärten Todesschüsse von Scharfschützen auf dem Maidan, insbesondere jedoch angesichts des Bürgerkriegs in der Ostukraine schwerlich die Rede sein. Anders als 1989 richtete sich der Protest zudem gegen einen zwar korrupten, aber gleichwohl demokratisch legitimierten Präsidenten.
Am 21. Februar 2014 unterzeichnete der seit der internationalen Standards entsprechenden Präsidentenwahl 2010 amtierende Präsident Janukowitsch nach monatelangen Unruhen in Kiew mit der politischen Opposition des Landes eine Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine, in dem unter anderem die Bildung einer Übergangsregierung sowie die Abhaltung von vorgezogenen Präsidentschaftswahlen noch im Jahr 2014 vereinbart wurden. Noch am Abend desselben Tages verließ er Kiew, bevor seine Amtsräume und seine Privatresidenz am Morgen des 22. Februar von paramilitärischen Gruppen des Maidan-Protests besetzt wurden. Schon am selben Tag erklärte das ukrainische Parlament ihn ohne das verfassungsrechtlich notwendige Amtsenthebungsverfahren für abgesetzt.
Regierungskritische US-Geheimdienstveteranen, darunter der frühe NSA-Whistleblower William Binney, haben den Machtwechsel in Kiew am 22. Februar 2014 als "Staatsstreich" bzw. "Coup" bezeichnet. In einem offenen Brief an Angela Merkel am 31. August 2014 haben sie zugleich davor gewarnt, den Behauptungen des US-Außenministeriums und der NATO vor einer Invasion Russlands in der Ukraine Glauben zu schenken. Diese erinnerten vielmehr an die „Beweise“, die als Begründung für den Irak-Krieg herhalten mussten.
Aber welches Interesse könnten die USA und die EU an diesem Konflikt haben? Warum scheinen sie eher zu eskalieren als zu deeskalieren (militärische Aufrüstung der ukrainischen Armee, Verschärfung von Sanktionen als Reaktion auf einen Waffenstillstand)? Anders als Russland verstehen sich die USA nach wie vor als Weltmacht, die ihre Interessen global durchzusetzen versucht. Wie Huntington 1996 schrieb, versucht der Westen, die erstarkenden nicht-westlichen Kulturen in ein weltweites Wirtschaftssystem zu integrieren, das er dominiert. (S. 292) Insbesondere China, aber auch Russland, widersetzen sich zunehmend diesem Versuch. Insbesondere streben sie eine Alternative zum Dollar als Weltleitwährung an.
Das papiergeldbasierte Finanzsystem, das zu einem hypertrophen und die Realwirtschaft gefährdenden Bankenapparat und zu immer heftigeren Blasen an den Vermögensmärkten (Immobilien, Aktien) geführt sowie eine immense Staatsverschuldung ermöglicht hat, lässt sich allerdings seit der Finanzkrise 2008 nur noch durch eine exorbitante Geldmengenausweitung der westlichen Zentralbanken aufrecht erhalten. Gleiches gilt für den Euro-Raum. Wie die Stimmengewinne EU- und eurokritischer Parteien in der Europawahl im Mai 2014 gezeigt haben, wächst in Europa der Unmut. Hat nicht auch die EU mithin ein Motiv für einen Konflikt mit Russland zur inneren Stabilisierung?
Haben wir in der Auseinandersetzung mit den totalitären Diktaturen in Deutschland und Europa die richtigen Fragen gestellt und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen? Erst die nächste große gesellschaftliche Umwälzung, die sich hoffentlich, aber nicht zwangsläufig ebenso friedlich, wie die friedliche Revolution 1989 vollzieht, wird es zeigen.
Dr. Bert Pampel
15.09.2014