Stilles Gedenken zum Volkstrauertag in Bautzen – Erinnerung an den Häftlingsaufstand im „Gelben Elend“ vor 70 Jahren
15.11.20
Anlässlich des heutigen Volkstrauertages wurden auf der Gräberstätte „Karnickelberg“ in Bautzen Blumen und Kränze zum Gedenken an die Opfer des Gefangenenaufstandes im Bautzener „Gelben Elend“ und zur Erinnerung an die Geschehnisse vor 70 Jahren niedergelegt. An den Kranzniederlegungen beteiligten sich neben der Stiftung Sächsische Gedenkstätten / Gedenkstätte Bautzen der Opferverein Bautzen-Komitee, der Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Stadt Bautzen und Angehörige ehemaliger Gefangener.
Anfang 1950 übergab die sowjetische Besatzungsmacht das Gefängnis Bautzen I, das bis dahin als Sowjetisches Speziallager genutzt wurde, an die Volkspolizei der damals jüngst gegründeten DDR. In dem Gefängnis waren zu dem Zeitpunkt 6.000 Gefangene, die überwiegend von Sowjetischen Militärtribunalen unter konstruierten Anschuldigungen wie „antisowjetischer Propaganda“, „illegaler Gruppenbildung“ oder „Spionage“ verurteilt und auf Jahre von der Außenwelt eingesperrt waren. Das Gefängnis – mit 1.100 Haftplätzen ausgestattet – war vollkommen überbelegt. Hunger, Krankheiten, Kälte, Isolation – mit der Übergabe in deutsche Verwaltung verbanden die Gefangenen große, existentielle Hoffnungen auf Beseitigung dieser Misststände und Überprüfung ihrer Urteile.
Die Volkspolizei war mit der Situation in dem überbelegten Gefängnis und den Forderungen der Häftlinge vollkommen überfordert. Trotz der Übergabe kam es kaum zu Entlassungen. Statt der erhofften Verbesserung trat eine deutliche Verschlechterung der Haftbedingungen ein. beispielsweise wurden die ohnehin kargen Essensrationen weiter gekürzt. Aus Enttäuschung und zunehmender Verzweiflung heraus organisierten die Gefangenen am 13. März 1950 einen ersten Hungerstreik. Die Volkspolizei beruhigte die Situation mit Versprechungen, die sie nicht einhielt. Kurze Zeit später, am 31. März, begehrten die Häftlinge des „Gelben Elends“ abermals gegen die unmenschlichen Haftbedingungen auf. Sie traten wieder in einen Hungerstreik und machten mit Sprechchören die Einwohner Bautzens auf ihre Not aufmerksam.
Die Reaktion folgte prompt: Herbeigerufene Bereitschaftskräfte der Volkspolizei und Bedienstete des Gefängnisses schlugen den Häftlingsaufstand mit Gummiknüppeln brutal nieder, hetzten abgerichtete Hunde in die Haftsäle und ließen mit Feuerlöschspritzen die Krankenstation unter Wasser setzen. Hunderte Gefangene erlitten schwere und schwerste Verletzungen.
Ab April 1950 schließlich änderten sich Verhältnisse: Die Verpflegung und medizinische Versorgung wurde verbessert. Die Gefangenen durften fortan regelmäßig ihren Angehörigen schreiben, ab Oktober konnten nahe Anghörige die seit Jahren isolierten Häftlinge besuchen. An den Außenfenstern der Zellen wurden die Sichtblenden entfernt, der Hofgang wurde verlängert. Mit Verlegungen in andere Gefängnisse ließ die Überfüllung der Zellen und Haftsäle spürbar nach.
Mit einer Gedenkfeier in der heutigen JVA Bautzen und einer Abendveranstaltung in der Gedenkstätte Bautzen zu den Ereignissen vor 70 Jahren wollten der Opferverein Bautzen Komitee und die Stiftung Sächsische Gedenkstätten / Gedenkstätte Bautzen ursprünglich an den Jahrestag des Aufstandes am 31. März dieses Jahres erinnern. Coronavirusbedingt wurde das Gedenken auf den heutigen Volkstrauertrag verschoben. Gemeinsam mit Zeitzeugen des Aufstandes, mit dem Sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und der Sächsischen Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung Katja Meier sowie zahlreichen geladenen Gästen sollte das Gedenken mit Reden und Vorträgen, der Vorstellung eines neuen Schülerprojektes, Kranzniederlegungen und einem Konzert nachgeholt werden. Bedauerlichweise musste nun auch diese Veranstaltung abgesagt werden.
„Auch wenn die Maßnahmen von Bund, Freistaat und Landkreis zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus derzeit keine öffentlichen Veranstaltungen zulassen, sind Formen eines stillen, individuellen und würdigen Gedenkens jederzeit möglich, wie Bautzen zum heutigen Volkstrauertag zeigt“, so Sven Riesel, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.
Zwei Sonntage vor dem 1. Advent erinnert der Volkstrauertag an die Toten der zwei Weltkriege und an die Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. Unter den Vorzeichen der kommunistischen Diktatur wurden in Bautzen bereits im März 1950 die Weichen des DDR-Strafvollzuges gestellt: „Das SED-Regime machte von Beginn an die für die nächsten knapp 40 Jahre geltenden Prämissen des sozialistischen Strafvollzugs deutlich: Gewalt und Kompromisslosigkeit statt demokratischer Neubeginn und Dialog. Die Niederschlagung des Aufstandes war erst der Auftakt einer repressiven Haftpraxis, die durch Drill, stetige Überbelegung, Arbeitspflicht, Stasi-Spitzel und Übergriffe der Bediensteten bis zum Ende der DDR ausgeübt wurde“, so Sven Riesel.
Lutz Rathenow, Sächsischer Landesbauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, hebt die erinnerungskulturelle Bedeutung hervor: „Der Häftlingsaufstand zeigt, dass Erinnerung nicht nur Gedenken an erlebtes und von Menschen erlittenes Unrecht bedeutet. Dieser Tag in Bautzen steht in einer Reihe der inspirierendsten Taten deutscher Zivilcourage unter widrigen Umständen und bei höchstem Risiko. Die DDR-Machthaber hätten die Chance gehabt, aus ihm mehr zu lernen, als ihn nur brutal niederzuschlagen.“
70 Jahre nach dem Gefangenenaufstand kann die Erinnerung an die historischen Geschehnisse Bezüge zur Gegenwart und rechtsstaatlichem Selbstverständnis herstellen. Für die Gedenkstättenleiterin Silke Klewin ging „von Bautzen vor 70 Jahren ein Hilferuf in die Welt: Verzweifelte, hungernde Gefangene forderten Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Hilferufe, deren Aktualität beim Blick in die Lager und Gefängnisse in Belarus, Nordafrika oder China offenkundig ist. Der Aufstand mahnt, die Menschenrechte aller Inhaftierten zu achten.“ Die Würdigung der Selbstbehauptung der Bautzener Häftlinge, das Aufzeigen ihrer Handlungsoptionen kann Bezüge bis in die Gegenwart setzen. Silke Klewin: „Obwohl die Lage aussichtslos schien, nahmen die Gefangenen ihr Schicksal in die Hand. Sie waren keine einzeln handelnden Helden, sondern erreichten gemeinsam Veränderungen.“
Kontakt:
Sven Riesel
Stellvertretender Geschäftsführer
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 0351 4695545 | sven.riesel@stsg.de
Silke Klewin
Leiterin Gedenkstätte Bautzen
Tel. 03591 40474 | Silke.Klewin@stsg.de
Bautzen-Komitee e. V.
Tel. 03591 42521 | buero@bautzen-komitee.de
Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Tel. 0351 493 3700 | E-Mail