Lebensunwertes Leben
Im Jahre 1859 veröffentlichte Charles Darwin seine Selektionstheorie. Er vertrat darin die Auffassung, dass Lebewesen, die den herrschenden Umweltbedingungen nur schlecht angepasst sind, durch besser angepasste verdrängt werden und aussterben. Diese Theorie wurde von den so genannten Sozialdarwinisten auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Nach ihrer Auffassung würden sich die kräftigsten und gesündesten Rassen beim natürlichen „Kampf ums Überleben“ durchsetzen. Mit Sorge sahen die Sozialdarwinisten eine angebliche „Entartung“ der Menschenrasse in zivilisierten Ländern, da dort die Schwachen durch die Medizin statt verdrängt noch unterstützt würden.
So formierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Lehre, für die in Deutschland der Begriff der „Rassenhygiene“ geprägt wurde. Durch eine Geburtenkontrolle, die die Fortpflanzung der „besten“ Vertreter einer Gesellschaft fördert und gleichzeitig die „minderwertigen“ davon ausschließt, sollte der Traum von einer hochentwickelten und gesunden Gesellschaft realisiert werden.
Der Erste Weltkrieg (1914–1918) verstärkte die rassenhygienischen Forderungen. Angesichts von fast zwei Millionen als „wertvoll“ geltenden gefallenen deutschen Soldaten wuchs die Angst vor einer „Entartung“ des deutschen Volkes. Zudem mehrten sich in Anbetracht der wirtschaftlichen Probleme die Stimmen, die sich aus finanziellen Gründen gegen die Pflege psychisch Kranker und geistig Behinderter aussprachen. So plädierten der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding 1920 in ihrer gleichnamigen Schrift für eine „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die radikalen Forderungen von Binding und Hoche wurden zum damaligen Zeitpunkt größtenteils abgelehnt. Später bildeten sie den geistigen Hintergrund für die vernichtende Politik der Nationalsozialisten gegenüber Behinderten.