Vor 30 Jahren – Der Historiker Boris Böhm beginnt seine Tätigkeit in Pirna-Sonnenstein
01.10.21
Kurz nach der Wiedervereinigung etablierte sich in Pirna eine bürgerschaftliche Initiative für ein würdiges Gedenken an die fast 15 000 Opfer der NS-Krankenmorde auf dem Sonnenstein. Am 3. Juni 1991 gründete sich das Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein mit dem Ziel der Schaffung einer Gedenkstätte und eines Gedenkparks. Zum 1. Vorsitzenden wurde der Pirnaer Bürgermeister Hans-Peter Bohrig gewählt. Im gleichen Monat nahm der Dresdner Historiker Boris Böhm Kontakt zum Verein auf und trat diesem als Mitglied bei.
Drei Monate später wurde er im Rahmen einer Beschäftigungsmaßnahme von der Stadt Pirna angestellt und mit wissenschaftlichen Recherchen und der Öffentlichkeitsarbeit beauftragt. Das Vereinsbüro wurde in einem nur noch teilweise genutzten Schulgebäude im Wohngebiet auf dem Sonnenstein eingerichtet und sollte dort fast ein Jahrzehnt verbleiben. Da vor Ort zu den NS-Krankenmorden außer allgemeinen Fakten kaum etwas bekannt war, erlangte die Forschungsarbeit umso größere Bedeutung. Diese erfolgte auf drei Ebenen. Der Medizinstudent Thomas Schilter und Boris Böhm werteten die seit Anfang 1992 der Öffentlichkeit zugänglichen Bestände des ehemaligen Sonderarchivs des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des Generalstaatsanwalts der DDR in Berlin sowie Unterlagen in sächsischen Krankenhausarchiven aus. Dabei erfolgte eine erste systematische Durchsicht der Akten des Dresdner „Euthanasie“-Prozesses von 1947 und die Erschließung der Patientenunterlagen von Mordopfern. Die zweite Ebene waren die Bauforschungen am authentischen Ort, für die Boris Böhm im Sommer 1992 mit Prof. Johannes Cramer von der Universität Bamberg einen Experten gewinnen konnte, der bereits die ehemalige Tötungsanstalt Hadamar in Hessen untersucht hatte.
Das 1991 vom Betrieb Strömungsmaschinen Pirna GmbH geräumte mutmaßliche ehemalige Tötungsgebäude C16 stand leer, das Staatliche Liegenschaftsamt Dresden gestattete aber Mitarbeitern des Vereins ab 1992 den Zutritt. Cramers Forschungen, die hauptsächlich in der ersten Jahreshälfte 1993 stattfanden, führten zur zweifelsfreien Identifizierung der Tötungsanlagen. Drittens führten Thomas Schilter und Boris Böhm hauptsächlich in Pirna Zeitzeugeninterviews, die zunächst als Gesprächsprotokolle dokumentiert wurden. Mit der Etablierung des Büros als Anlauf- und Auskunftsstelle begann die heute mehrere tausend Vorgänge umfassende Korrespondenz mit Angehörigen der Opfer, aber auch mit Behörden und Bildungseinrichtungen. Parallel zu all diesen Aktivitäten wurde die Öffentlichkeit insbesondere in Pirna und der Region regelmäßig über die Erkenntnisfortschritte informiert. Dazu dienten neben Zeitungs- und Rundfunkbeiträgen die Sonnenstein-Symposien, die das Kuratorium unter der wissenschaftlichen Leitung von Boris Böhm seit 1992 jährlich im Herbst in Zusammenarbeit mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung durchführte. Ein Meilenstein dieser Kooperation war die im Herbst 1993 vorgelegte gemeinsame Publikation „Nationalsozialistische ‚Euthanasie‘-Verbrechen in Sachsen“, der 1996 und 1999 weitere Auflagen folgten.
Als Bilanz seines ersten Arbeitsjahres in Pirna präsentierte Boris Böhm im Oktober 1992 in der leerstehenden früheren Kirche der Landesanstalt eine provisorische Ausstellung zu den nationalsozialistischen Krankenmorden in Pirna. Im selben Monat waren der Park und der Großteil der ehemaligen Anstaltsgebäude erstmals seit Jahrzehnten für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Die an zwei Tagen der Woche geöffnete Ausstellung stieß auf großes Interesse und konnte dort bis Anfang 1996 gezeigt werden.
Kontakt:
Hagen Markwardt (Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Öffentlichkeitsarbeit)
Tel.: 03501 710963
hagen.markwardt@stsg.de