#Kalenderblatt – Vor 70 Jahren wurde der „Euthanasie“-Arzt Gerhard Wischer hingerichtet
04.11.20
Vom 21. April bis zum 29. Juni 1950 fanden die „Waldheimer Prozesse“ statt. Zuvor hatten die sowjetischen Besatzungsbehörden über 3 400 Häftlinge der aufgelösten Speziallager an das Zuchthaus Waldheim überstellt. Diesen wurde vorgeworfen, an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Die Angeklagten wurden in Schnellverfahren, ohne Zeugen und Verteidiger, zu Freiheitsstrafen von 15 bis 25 Jahren oder sogar zum Tod verurteilt. Unter ihnen waren – neben zahlreichen tatsächlich durch ihre NS-Vergangenheit Belasteten – auch Antifaschisten und offiziell anerkannte „Opfer des Faschismus“. Schon vor dem Beginn war der Verfahrensausgang durch die SED bestimmt worden. Damit wurde die Chance der Feststellung der individuellen Schuld unter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien vertan.
Von den insgesamt 30 verhängten Todesstrafen wurden 24 vollstreckt. Einer der Betroffenen war Gerhard Wischer. Er wurde am 4. November 1950 im Zuchthaus Waldheim hingerichtet – in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Ort, an dem er Jahre zuvor hunderte Menschen ermordet hatte.
Gerhard Wischer wurde 1903 in Berlin geboren und gehörte – laut eigener Aussage – schon als Zwanzigjähriger zu den Unterstützern Hitlers, als er sich angeblich 1923 an dessen Putschversuch beteiligte. Trotzdem trat er nicht sofort, sondern erst zehn Jahre später der SA bei und sogar erst 1937 der NSDAP. Ende 1933 schloss er sein Medizinstudium ab. Bereits in seiner Dissertation „Das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens im Schrifttum“ beschäftigte er sich mit dem Thema der „Euthanasie“.
1938 übernahm er in Vertretung dauerhaft die Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Waldheim. Zuvor war er schon in der Landesanstalt Arnsdorf für die Erfassung von „Erbkranken“ zuständig. Zusätzlich zu seiner leitenden Position in Waldheim war er „Landesobmann für die erbbiologische Bestandsaufnahme“.
Die Heil- und Pflegeanstalt Waldheim wurde während der zentralen Krankenmorde, der sogenannten „Aktion T4“, als „Durchgangsanstalt“ genutzt. Von da aus wurden fast 1 500 Menschen in die Tötungsanstalten Brandenburg und Pirna-Sonnenstein verlegt und dort ermordet. Wischer hatte sich darum bemüht, im Rahmen der „Aktion T4“ einen Posten zu erlangen. Seit 1941 war er als Gutachter an der Auswahl von Menschen mit psychischen Krankheiten und Behinderungen beteiligt, die in den Gaskammern der „T4“ ermordet werden sollten. Im Rahmen der „Aktion 14f13“ selektierte er auch KZ-Häftlinge, die wegen Arbeitsunfähigkeit ermordet wurden. Nach dem Abbruch der „Aktion T4“ war er in Waldheim für die Ermordung mehrerer hundert Patienten mit überdosierten Beruhigungsmitteln und gezielter Unterernährung verantwortlich.
Im Oktober 1945 kam Wischer in sowjetische Haft. Im Zuge der Waldheimer Prozesse wurde er am 23. Juni 1950 „wegen Teilnahme an Tötungen in der Heil- und Pflegeanstalt Waldheim“ als „Hauptverbrecher“ zum Tode verurteilt. Seine weitreichende Beteiligung an der „Aktion T4“ blieb dem Gericht allerdings unbekannt.
An die „Waldheimer Prozesse“ erinnern heute, auf dem Gelände des ehemaligen Haftkrankenhauses, ein Gedenkstein und eine Gedenktafel. Einen Hinweis auf die nationalsozialistischen Krankenmorde sucht man dort jedoch vergebens.
(Verfasst von Marie-Christien Martin)
Hagen Markwardt (Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Öffentlichkeitsarbeit)
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