Kalenderblatt: Erinnerung an den Besuch von Thomas „Toivi“ Blatt in Pirna-Sonnenstein
16.10.23
Am 14. Oktober 1943 Jahren erhoben sich 600 Häftlinge im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor gegen das Wachpersonal. Einer der wenigen Überlebenden dieses Aufstandes war Thomas Blatt. Der Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Dr. Boris Böhm, erinnert sich an eine persönliche Begegnung mit ihm vor 20 Jahren:
In meiner über 30-jährigen Tätigkeit beim Aufbau und der Leitung der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein hatte ich viele Begegnungen mit Hinterbliebenen von Opfern der NS-Krankenmorde und mit Verfolgten des NS-Regimes, darunter auch einige Treffen mit Holocaust-Überlebenden.
Eines der eindrücklichsten war Anfang Februar 2003 mit dem Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Sobibor, dem 1927 im polnischen Izbica geborenen Thomas „Toivi“ Blatt. Mit 15 Jahren wurde er mit seiner Familie in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Während Mutter, Vater und Bruder in der Gaskammer starben, wurde er zur Arbeit im Lager eingeteilt. Als am 14. Oktober 1943 in Sobibor ein Aufstand losbrach, gehörte er zu den Teilnehmern. Er war einer von nur 47 Häftlingen, die den Aufstand, die anschließende Flucht und die Besatzungszeit überlebten.
Ich hatte 2002 in der Zeitung von einer Lesung Thomas Blatts in Dresden erfahren. Der Autor hatte sein Buch „Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor“ vorgestellt. Daraufhin nahm ich Kontakt zum Verlag auf, der mein Interesse an den in den Vereinigten Staaten lebenden Thomas Blatt weiterleitete. Ich bekam positive Nachricht und organisierte das Programm für einen dreitägigen Aufenthalt von Thomas Blatt in Pirna. Am 4. Februar trafen wir uns erstmals. Ich blickte in wache und aufmerksame Augen und lernte einen aufgeschlossenen und interessierten Menschen kennen. Als wollten wir uns das Schwierigste aufsparen, drehte sich das Gespräch zunächst nur um seine frühere berufliche Tätigkeit und sein Haus im kalifornischen Santa Barbara, seine Begegnungen mit Liz Taylor, um unsere Familien, um Pirna und die Entstehung der Gedenkstätte.
Für den nächsten Tag hatte ich eine Lesung im Pirnaer Rainer-Fetscher-Gymnasium organisiert. In der vollbesetzten Aula las Blatt mehrere Auszüge aus seinem Buch vor: zu seiner Heimat, zur Deportation und Ermordung fast seiner gesamten Familie, zum Alltag im Vernichtungslager und zu seiner Flucht aus der Hölle.
Ich sah in viele betroffene Gesichter und dennoch gelang es, das Schweigen zu überwinden und mit dem Autor ins Gespräch zu kommen. Eine der Fragen war auch eine meiner wichtigsten – ob er Hass auf die Deutschen habe? Er antwortete Nein, aber auch, dass er wünsche, dass sich die jungen Menschen mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen und die Gründe für diesen Zivilisationsbruch zu verstehen versuchen. Deshalb hatte er, als einer der ganz wenigen Zeugen dieses Massenverbrechens, seine Erinnerungen verfasst.
Am Nachmittag stellte ich Thomas Blatt die Gedenkstätte auf dem Sonnenstein vor. Ihn interessierte besonders die Bedeutung der „Euthanasie“-Anstalten für die Vorbereitung des Holocausts und das Wirken der Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, die 1942/43 in Sobibor hunderttausende Menschen ermordeten.
Den nächsten Tag verbrachte er für ein ausführliches Zeitzeugeninterview mit Filmemacherin Heide Blum in der Gedenkstätte. Mit Geduld und Aufmerksamkeit stellte sich Thomas Blatt den Fragen. Wie als sprachliches Zeugnis seines Lebensweges, nutzte er oft plötzlich jiddische und englische Wörter. Die Aufzeichnungen umfassen einen Zeitraum von über zwei Stunden und sind für unsere Gedenkstätte von immensem Wert. Es ist etwas völlig anderes, in einem Buch die Geschichten zu lesen, als diese vom Betroffenen selbst zu hören. Bei aller Nüchternheit seiner Erzählweise, das Nicht-Begreifen-Können der Verbrechen und die Erschütterung darüber bleiben. Übrigens sprach er sowohl im Gymnasium als auch im Interview deutsch, seine Sprache war angereichert mit Anglizismen und jiddischen Wörtern.
Seit 2012 können Ausschnitte seines beeindruckenden Interviews in der Medienstation der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein abgerufen werden.
Am 31. Oktober 2015 starb Thomas Blatt in seiner Wahlheimat, in Santa Barbara. Er bleibt mir in Erinnerung als ein nobler und bescheidener Mensch.
(verfasst von Dr. Boris Böhm)
Hagen Markwardt (Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Öffentlichkeitsarbeit)
Tel.: 03501 710963
hagen.markwardt@stsg.de