#Kalenderblatt – Die Ermordung jüdischer Psychiatriepatienten aus Schlesien vor 80 Jahren
17.12.20
„Ich sah gerade wie ein älterer Jude eine Rechnung der Irrenanstalt Chelm bei Lublin bezahlte. Das ist die Anstalt, von der erzählt wird, daß man dort alle jüdischen Geisteskranken umbringt. Ich fragte ihn voll Mitgefühl, ob er für jemanden bezahlt, der hoffentlich noch am Leben ist; worauf er sagte, seine Frau sei es jedenfalls nicht mehr.“ Der Autor dieses Tagebucheintrages, der Breslauer Historiker Willy Cohn, ahnte nicht, dass diese Anstalt bereits seit Januar 1940 nicht mehr existierte. Trotzdem wurde der Name der ehemaligen Anstalt in hunderten Todesnachrichten als Sterbeort sogenannter jüdischer Geisteskranker angegeben. Tatsächlich waren diese Menschen aber in einer der sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich ermordet worden.
Vor 80 Jahren, am 17. Dezember 1940, ging der erste von drei Transporten von der Anstalt Leubus im damaligen Niederschlesien nach „unbekannt“. Nur wenige Tage zuvor waren jüdische Patienten aus unterschiedlichen schlesischen Heil- und Pflegeanstalten dorthin gebracht worden. Transportleiter Egmont Küpper verlangte unter Berufung auf einen Ministerialerlass alle als jüdisch und geisteskrank bezeichneten Personen zum Abtransport übergeben zu bekommen. Das unausgesprochene, aber eindeutige Ziel war eine Tötungsanstalt des Deutschen Reiches.
In dem Erlass, auf den sich Küpper berief, wurde gefordert, dass alle in schlesischen Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Juden zu melden seien. Die daraufhin erstellten Listen boten somit die Grundlage für die Abtransporte der schlesischen jüdischen „Geisteskranken“.
Als Küpper in Leubus erschien, waren sich die Vertreter der schlesischen Provinzialverwaltung unsicher, wer eigentlich als „jüdischer Geisteskranker“ zu gelten hatte. Diese sollten ungeachtet sonstiger Kriterien, wie Arbeitsfähigkeit oder schwere der psychischen Krankheit, ermordet werden. Sogenannte „Halb-“ und „Vierteljuden“ waren theoretisch davon ausgenommen. Landespsychiater Heinrich Tewes stellte heraus, dass die eindeutige Zuordnung zur „jüdischen Rasse“ bei den Patienten in Leubus nicht möglich wäre, nicht einmal ob Anstaltsbedürftigkeit vorläge. Küpper ließ sich aber nicht auf Diskussionen ein und verlangte, dass „[…] alle diejenigen dem Transport mit überstellt werden sollten, bei denen lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spreche, daß sie unter den Ministerialerlaß fallen.“
In drei Transporten am 17., 18. und 19. Dezember 1940 wurden insgesamt 149 Frauen und Männer verlegt. Seit Mitte Januar 1941 trafen bei den Angehörigen fingierte Todesnachrichten des angeblichen Standesamtes Cholm ein. Für die Zeit zwischen dem tatsächlichen und dem angegebenen Todesdatum mussten weiterhin Verpflegungskosten gezahlt werden. Doch nicht nur das Datum, sondern auch der Ort des Todes war gefälscht. Aus Nachkriegsaussagen geht hervor, dass die einzige Verbindung zu „Cholm“ nur ein Briefkasten war, von dem aus die „Trostbriefe“ verschickt wurden.
Einige Hinweise deuten darauf hin, dass die 149 Menschen in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet wurden. So war diese am nächsten an Leubus gelegen. Besonders bemerkenswert ist jedoch ein Eintrag im Überführungsbuch des Breslauer Jüdischen Friedhofes. Dort wurde vermerkt: „Urne Nr. 1014. 29.12.40 in Sonnenstein eingeäsch.[ert]“.
(verfasst von Marie-Christien Martin)
Hagen Markwardt (Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Öffentlichkeitsarbeit)
Tel.: 03501 710963
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