1. September 1939 | 1989 | 2019: Erste Ausstellung zu den nationalsozialistischen Krankenmorden in Pirna vor 30 Jahren
20.08.19
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ Dieser Satz genügte Adolf Hitler, um die Ermordung von zehntausenden Menschen mit psychischen Krankheiten oder geistigen Behinderungen zu legitimieren. Das formlose Schreiben datierte auf den 1. September 1939, dem Tag des Überfalls des Deutschen Reiches auf Polen und des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlich war es erst im Oktober 1939 verfasst worden. Die nun folgenden Morde von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen sollten um jeden Preis geheim gehalten werden: Die Tötungsanstalten wurden als „Heil- und Pflegeanstalten“ bezeichnet, die Angehörigen der Ermordeten erhielten „Trostbriefe“ mit falschen Angaben zum Todesdatum und den Gründen des Todes ihrer Verwandten. Doch trotz dieser Bemühungen waren die Morde schnell ein offenes Geheimnis: Am 24. August 1941 ließ Hitler die zentral organisierte Mordaktion abbrechen – die Unruhe in der Bevölkerung war zu groß geworden.
Kurz nach dem Krieg begann die zaghafte juristische Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“: Beteiligte der Mordaktionen wurden angeklagt. Der größte „Euthanasie“-Prozess gegen 15 Angeklagte fand im Sommer 1947 vor dem Landgericht Dresden am Münchner Platz statt. Dennoch gerieten die knapp 15 000 in Pirna-Sonnenstein ermordeten Menschen in den folgenden Jahrzehnten in Vergessenheit. Die Gebäude der ehemaligen Tötungsanstalt waren in der SED-Diktatur Teile eines Industriebetriebes geworden, der Zutritt war verboten. Lediglich eine kleine Gedenktafel erinnerte seit 1973 vage an die Verbrechen. Der Mythos der antifaschistischen DDR ließ keinen Platz für die Erinnerung an ermordete Psychiatriepatienten. So erhielt der damals 17-jährige Schüler Thomas Schilter auf seine Frage, warum es keine Erinnerung an die Opfer der Krankenmorde in Pirna gebe, von seiner Lehrerin 1988 die Antwort, „man müsse doch erst einmal der Widerstandskämpfer gedenken, die aktiv gegen die Nazis gekämpft hätten.“
Das Schweigen in der DDR über die nationalsozialistische Vergangenheit geriet im Verlauf der 1980er Jahre immer mehr unter Druck. Thomas Schilter setzte sich gemeinsam mit anderen dafür ein, dass in Pirna eine Ausstellung des West-Berliner Historikers Götz Aly zu den NS-Krankenmorden gezeigt werden konnte. Eröffnet wurde die Ausstellung am 1. September 1989 im Gemeindezentrum Pirna-Sonnenstein. Der Leipziger Theologe und Kirchenhistoriker Kurt Nowak beklagte in seinem Eröffnungsvortrag: „Der Sonnenstein hat allzu lange in dem Schlaf des Vergessens gelegen, trotzdem die stummen Zeugen allgegenwärtig sind.“
Die Ausstellung rückte vor 30 Jahren erstmals nach rund 40-jährigem Schweigen die NS-Krankenmorde wieder in das Bewusstsein der Pirnaer Bürger und war ein erster wichtiger Impuls zur Entstehung der im Jahr 2000 eröffneten Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein.
Kontakt:
Hagen Markwardt
(Wissenschaftliche Dokumentation, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit | Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein)
hagen.markwardt@stsg.de
Tel. 03501 710963