1. September 1989: Beginn der Aufarbeitung der NS-"Euthanasie"-Verbrechen in Pirna
Am 1. September 1989 wird im Gemeindezentrum der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde Pirna-Sonnenstein die Wanderausstellung „Aktion T4 – Die Tötung lebensunwerten Lebens“ des West-Berliner Historikers und Publizisten Götz Aly eröffnet. Den Eröffnungsvortrag hält der Leipziger Theologe und Kirchenhistoriker Kurt Nowak, der bereits 1971 mit einer Arbeit über „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“ promovierte.
49 Jahre nach dem historischen Geschehen wird damit erstmals in der DDR nahe dem authentischen Ort der ehemaligen Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein über die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde öffentlich aufgeklärt. Lediglich eine kleine, abgelegene Gedenktafel hatte bis dahin seit 1973 einen vagen Hinweis auf die in Pirna verübten Verbrechen gegeben. Bereits seit Herbst 1988 gab es einzelne Bemühungen, endlich auch in Pirna über die nationalsozialistischen Krankenmorde zu informieren und an diese zu erinnern. Vor allem der Oberschüler Thomas Schilter drängte den Rat der Stadt Pirna, sich der Thematik anzunehmen und ein würdiges Gedenken an die Opfer zu ermöglichen. Unterstützung fand er bei seinem Vater, der als Arzt im Kreiskrankenhaus Pirna der Thematik großes Interesse entgegen brachte. Neben Schilter bemühte sich vor allem der Pfarrer der Sonnensteiner Kirchgemeinde Bernd Richter, die NS-Krankenmorde wieder in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Ihm gelang es schließlich, Kontakt zu Götz Aly herzustellen, der die Ausstellung der Kirchgemeinde zur Verfügung stellte. Richters und Schilters Vorgehen war Ausdruck eines sich immer stärker entwickelnden bürgerschaftlichen Engagements, aber auch einer tiefen Unzufriedenheit mit der offiziellen Geschichtspolitik in der noch bestehenden DDR. Das antifaschistische Selbstbild des SED-Regimes war geprägt von einem äußerst einseitigen und instrumentellen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Er betonte vor allem die kommunistischen Opfer der NS-Herrschaft, vernachlässigte dabei aber andere Opfergruppen, wie etwa die Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen. Nicht zuletzt belegten deutlich wahrnehmbare rechtsextremistische Tendenzen in der DDR in den 1980er Jahren, dass der in festen Formen erstarrte Antifaschismus zunehmend an Wirkung verlor.
Kurt Nowak stellte in seinem kenntnisreichen Vortrag klar: „Der Sonnenstein hat allzu lange in dem Schlaf des Vergessens gelegen, trotzdem die stummen Zeugen allgegenwärtig sind. […] Der Sonnenstein war eine Zentrale des Massenmords, so wie man es weiß von Buchenwald, von Sachsenhausen und anderen Orten.“ Diese Offenheit, fast war es ein Weckruf, bestärkte einige Teilnehmer, sich für ein würdiges Erinnern einzusetzen. Zwei Jahre später gründete sich das Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V. mit dem Ziel der Schaffung einer Gedenkstätte. Bis heute unterstützt und begleitet der Verein die Arbeit der im Jahr 2000 eröffneten Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein.