Berliner Zeitung vom 6. März 2015
Bis auf Weiteres keine Auskunft
Die Bundesregierung streicht der Informationsstelle zum Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener die Mittel
VON KATJA TICHOMIROWA
Verehrter Bürgermeister der Stadt Dresden, es schreibt Ihnen Alfija Bikmuchametowa aus der Stadt Kasan, Republik Tartastan. 1996 habe ich mich mit der Bitte an Sie gewandt, den Ort zu finden, an dem mein Großvater begraben liegt und ein Foto der Grabstelle zu schicken. Meine Bitte wurde erfüllt, dafür möchte ich Ihnen noch einmal danken." Nun wolle die Familie das Grab bei Zittau besuchen, schreibt Alfija Bikmuchametowa, deshalb bitte sie ein zweites Mal um Hilfe.
Solche oder ähnliche Schreiben sind es, die bei der Stiftung Sächsische Gedenkstätten eingehen. Seit 15 Jahren erteilt die Dokumentationsstelle der Stiftung Angehörigen in Deutschland vermisster sowjetischer Kriegsgefangener Auskunft über deren Schicksal.
Mehr als 4 000 Anfragen
Es sind viele Schicksale. Weit über fünf Millionen sowjetische Soldaten gerieten zwischen 1941 und 1945 in deutsche Kriegsgefangenschaft. 3,3 Millionen starben. Die meisten verhungerten oder erfroren. Sowjetische Kriegsgefangene sind nach den ermordeten Juden die zweitgrößte Opfergruppe der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Diese Menschen, schreibt der amerikanische Historiker Timothy Snyder, wurden "gezielt umgebracht, oder es lag die bewusste Absicht vor, sie den Hungertod sterben zu lassen. Wäre der Holocaust nicht gewesen, man würde dies als das schlimmste Kriegsverbrechen der Neuzeit erinnern". Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten war die erste und einzige Stelle, an die sich ihre Angehörigen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken wenden konnten. Allerdings nur bis Anfang des Jahres.
Seither finden die Suchenden im Internet nur noch den Hinweis: "Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ab dem 1. 1. 2015 bis auf Weiteres keine Auskünfte mehr zu sowjetischen Kriegsgefangenen geben kann." Es gibt nicht wenige Betroffene. Noch im vergangenen Jahr gingen von Januar bis September 4 450 Anfragen in Dresden ein.
Dass sie künftig unbeantwortet bleiben, hält Markus Meckel für einen Skandal und eine "politische Gedankenlosigkeit". Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und jetzige Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat sich nach eigenem Bekunden seit einem Jahr bemüht, das Ende der Auskunftsstelle zu verhindern.
Die Mittel sind erschöpft. Die zuständige Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, hält die "ursprünglichen Projektziele für erreicht". Tatsächlich wurde das Vorhaben 14 Jahre lang gefördert. Eine "überlange Dauer", weshalb die Finanzplanung ab 2015 keine Bundesgelder mehr vorsieht.
Allerdings ist auch der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) klar, dass einem sinnvollen Abschluss humanitäre Gründe entgegenstehen. Solange es Angehörige gibt, die nach ihren in deutschen Kriegsgefangenenlagern umgebrachten Großvätern suchen, kann ein Abschluss kaum sinnvoll sein, zumal das Jahresbudget der Auskunftsstelle "maximal 200 000 Euro" beträgt, wie die Stiftung Sächsische Gedenkstätten versichert.
Die BKM erklärt auf Anfrage, der ursprünglich wissenschaftliche Ansatz des Projekts, die Sichtung und Ermittlung von Daten "anhand deutscher, kriegsbedingt in die Sowjetunion verbrachter Unterlagen" sei schon seit vielen Jahren humanitären Motiven gewichen. Der Versuch, jedwedes Schicksal aufzuklären, sei jedoch nicht einlösbar, heißt es. Eine Prüfung des Auswärtigen Amtes auf Übernahme der Förderung habe bisher zu keinem positiven Ergebnis geführt.
Die Daten sollen indes auch künftig genutzt werden. Angestrebt wird, mit einer Beteiligung des Landes Sachsen ab 2016 eine Stelle bei der Stiftung zu finanzieren. Die sächsische Staatskanzlei hat bereits Geld für die erste Jahreshälfte 2015 zur Verfügung gestellt. "Es ist daher unverständlich, warum die Stiftung unverändert und fälschlicherweise mitteilt, man habe die Auskunftstätigkeit zum 1.1. 2015 einstellen müssen", heißt es im Kanzleramt.
Dem widerspricht der Geschäftsführer Siegfried Reiprich. Die "im Vergleich zur Aufgabe bescheidene Spende von 25 000 Euro" könne aus arbeitsrechtlichen Gründen bis auf Weiteres nicht verwendet werden. Zugleich müsse der Stiftungsrat klären, ob und wie er eine Fortsetzung der Arbeit ohne Finanzierungszusagen des Bundes wünscht.