Rede von Siegfried Reiprich, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, im Rahmen der Vorstellung des Readers, „DAMIT WIR NICHT VERGESSEN. Erinnerung an den Totalitarismus in Europa", am 1. April 2014 in der Landesvertretung des Freistaates Sachsen beim Bund in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Stiftung Sächsische Gedenkstätten ist eine Stiftung zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft. Das ist ein guter Name. „Staaten sind die kältesten aller Monster“, sagte Friedrich Nietzsche aus dem mitteldeutschen Röcken – und ahnte am Ende des 19. das totalitäre 20. Jahrhundert voraus.
Gleich um die Ecke bin ich übrigens geboren, in Jena, und wuchs auf in Weimar, der Stadt der Dichter und Denker und Richter und Henker. Was daraus zu lernen ist, wurde nur teilweise gelernt. Jorge Semprun, der berühmte KZ-Überlebende und Schriftsteller, sagte zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, er wünsche sich, dass zum 70. Jahrestag neben den Erzählungen von Primo Levi oder Imre Kertész auch die Erzählungen von Warlam Schalamow aus Kolyma stehen würden.
Es sieht nicht unbedingt so aus, als ob wir schon so weit wären. Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten stellt einzelne verfolgte Menschen und ihre Selbstbehauptung, ihren Widerstand in den Mittelpunkt. Im historischen Kontext natürlich.
Und doch ist es so: Die Geschichte wird nach vorne gelebt, aber nur rückwärts verstanden.
Da sind wir ein bisschen spät dran – wir Europäer. Denn was jetzt auf dem Majdan in Kiew passierte, oder auf der Krim, oder in Moskau, hatten viele nicht mehr für möglich gehalten. Junge Leute fragen: Was sind das für Leute, die Krimtataren? Haben die nicht mit den Nazis kollaboriert? Wer es genau wissen will, muss dieses Schulbuch in die Hand nehmen und als Beispiel die Geschichte von Aysche Seitmuratowa, einer Krim-Tatarin, lesen. Ihr Vater könnte in Sachsen begraben sein – im ehemaligen Kriegsgefangenenlager Zeithain. 25-30.000 sowjetische Soldaten, die durch den antislawischen Rassismus der Nazis zu Tode gebracht worden waren, liegen dort, unter ihnen sicher auch Krim-Tataren. Denn die Mehrheit von ihnen hat im Zweiten Weltkrieg eben nicht in Hitlers Deutscher Wehrmacht, sondern in Stalins Roter Armee gekämpft. Aysches Vater ist gefallen.
Als ich ein kleiner Junge war, in Weimar, hatte ich gelernt: Die Sowjetunion ist der Pionier des Menschheitsfortschritts und das Vaterland aller Werktätigen! Was aber war der Dank des Vaterlands an Aysche und ihre Familie? Frau und Kinder des toten Sowjetsoldaten wurden deportiert ins Innere Asiens. Ohne Erbarmen.
Aischa hieß übrigens die Lieblingsfrau des Propheten Mohammed – ein sehr intelligentes, ja „kesses“ Mädchen. Die tatarische Aysche studierte in der Verbannung, flog raus, wurde verhaftet und in einem Geheimprozeß verurteilt, kam wieder raus, studierte und – wurde kurz vor Abschluß der Dissertation wieder verhaftet. Jahre der Lagerhaft folgten. Nur auf Grund einer so genannten „jüdischen Einladung“ aus den USA durfte sie später ausreisen und wurde im Westen eine Menschenrechtsaktivistin für ihr Volk und andere Völker und – wenn man so will – eine islamische Feministin.
Eine andere Geschichte findet sich in diesem Buch für europäische Schüler: Edward Anders (Eduards Alperowitsch), ein jüdischer Lette, der nur dank unglaublicher „Zufälle“ oder Glück im Unglück überlebte. 98 Prozent betrug die Wahrscheinlichkeit für lettische Juden, Opfer des Holocaust zu werden. Er schreibt im Buch: „Eine Lektion, die ich aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt habe, ist, dass es keine hasserfüllten Verallgemeinerungen über irgendeine ethnische oder religiöse Gruppierung geben darf, sondern dass man Menschen als Individuen beurteilen muss. Ich habe während des Krieges genug anständige, edelmütige und tapfere Letten, Deutsche und Russen kennengelernt, um gegen Vorurteile immun geworden zu sein.“
Jede kommunistische, faschistische, nationalsozialistische, stalinistische Ausprägung totalitärer Ideologie ist kollektivistisch, steckt Menschen in Schächtelchen, in Gruppen, die dann kollektiv verurteilt und bestraft werden. Alles im Namen der großen Sache.
Reiner Kunze, ein Arbeitersohn und Dichter aus dem sächsisch-thüringischen Vogtland, brachte es mit einem Gedicht auf den Punkt (kurz wie ein japanisches Haiku):
Im Mittelpunkt
Steht
Der Mensch!
Nicht der
Einzelne.
Diese Kritik an der kommunistischen Diktatur sowjetischen Typus in der DDR wollten viele Westdeutsche, viele westeuropäische Linke, nicht hören.
Jürgen Fuchs, wie Kunze aus dem Vogtland, Arbeitersohn, Schriftsteller und Dissident, meinte, dass das nicht so bleiben dürfe. So ist es, und die Stiftung Sächsische Gedenkstätten, die mit ihren Gedenkstätten, z. B. in Bautzen, am Münchner Platz in Dresden, oder in Torgau viele Orte sowohl nazistischer als auch kommunistischer Verfolgung Schülern und Erwachsenen nahe bringt, kennt die „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ (Walter Janka – NS- und SED-Verfolgter).
Jürgen Fuchs sagte es nach 1990 so:
„Es gibt linke und es gibt rechte Diktaturen. Rechte haben Schwierigkeiten mit rechten und Linke haben eben Schwierigkeiten mit linken Diktaturen. Na und?" ... So what? ... ну и чтo?
Lassen Sie uns die konkreten Geschichten, die wirkliche Geschichte wahrnehmen. Nur so kann und wird die europäische Wiedervereinigung gelingen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.