Prof. Dr. Stéphane Courtois: Einführung zur Präsentation des Buches „Damit wir nicht vergessen. Erinnerung an den Totalitarismus in Europa“
am 1. April 2014 in Berlin
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
Europa hat im 20. Jahrhundert zwei große Tragödien erlebt. Die Erste war der Krieg von 1914-1918, bei dem Länder mit reicher Kultur und Geschichte übereinander herfielen, angetrieben von einem gewaltigen Nationalismus, der den Tod von Millionen von Soldaten und Zivilisten zur Folge hatte. Der Konflikt bewirkte nichtsdestoweniger den Zusammenbruch von vier großen Imperien und ermöglichte zahlreichen Nationen den Weg in die Unabhängigkeit mit garantierten Grenzen und der Entfaltung eines demokratischen und parlamentarischen Lebens unterschiedlicher Intensität.
Demgegenüber brachten die Zwanziger- und Dreißigerjahre ein in der Geschichte völlig neues politisches Phänomen zutage, den Totalitarismus, der zur größten jemals in Europa erlebten Tragödie führte und tiefe Spuren in allen unseren Ländern hinterlassen hat, die bis heute in der Erinnerung fortleben.
Geboren wurde der Totalitarismus in Russland in Folge des Putsches vom 7. November 1917, der in St. Petersburg von der bolschewistischen Partei, einer von Lenin geführten extremistischen revolutionären Partei, vorbereitet wurde.
Das Aufkommen des Totalitarismus kann auf den 18. Januar 1918 datiert werden, als eine erstmals in Russland von mehr als 40 Millionen Menschen frei gewählte konstituierende Versammlung von der Macht der Bolschewiki aufgelöst wurde.
Diktatur, Terror und Bürgerkrieg waren die Mittel dieses Regimes, das die Grundlagen des totalitären Systems legte: dreifaches Monopol der Einheitspartei in Form der Herrschaft über die politische Macht, die Ideen und alle Produktionsmittel und Verteilung der materiellen Güter.
Ein dreifaches Monopol, das nur durch Massenterror als Mittel zum Regieren durchgesetzt werden konnte und den Anspruch erhob, die Gesellschaft zu revolutionieren und einen „neuen Menschen“ hervorzubringen.
Nach dem verheerenden Bürgerkrieg von 1918-1922, bei dem Millionen von Menschen starben, kurbelte Stalin ab 1929 die totalitäre Bewegung an und forcierte die Kollektivierung der Landwirtschaft, die in den Jahren 1932-1933 zu einer vom Regime gegen die ukrainischen Bauern organisierten gigantischen Hungersnot führte, bei der in wenigen Monaten mehrere Millionen Menschen den Hungertod fanden – von den Ukrainern in Anlehnung an den Holocaust an den Juden als Holodomor bezeichnet.
Stalin schuf ein umfassendes Repressionssystem, den Gulag, und löste in den Jahren 1936-1938 eine Verfolgungskampagne aus, den Großen Terror, der sich sowohl gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen als auch nationale Minderheiten richtete und mehr als 700.000 Tote und 700.000 Deportierte forderte.
Das kommunistische Modell wurde sehr schnell von zwei weiteren totalitären Führern kopiert: ab 1922 von Mussolini in Italien und 1933 von Adolf Hitler in Deutschland.
Im August-September 1939 löste die Allianz zwischen Hitler und Stalin den 2. Weltkrieg aus - die zweite große Tragödie in Europa im 20. Jahrhundert und nicht mit gleichem Maßstab zu messen wie die erste.
Das Nazi-Regime und das kommunistische Regime zerstörten den polnischen Staat und führten einen erbitterten Kampf zur Vernichtung der polnischen Eliten. Davon zeugen sowohl das Lager Auschwitz – das von den Nazis 1940 zur Inhaftierung und Ermordung polnischer Widerstandskämpfer eingerichtet wurde - als auch das Massaker von Katyn an polnischen Offizieren, das von der politischen Polizei Stalins im Frühjahr 1940 verübt wurde.
Die Kriegssituation eröffnete den totalitären Mächten von vornherein die Möglichkeit, geheime Massaker an Zivilisten zu verüben und kollektive Deportationen durchzuführen, wobei die Bevölkerungsgruppen nach folgenden ideologischen Kriterien ausgewählt wurden:
- rassische Kriterien bei den Nazis – insbesondere gegen die in den Ghettos eingeschlossene jüdische Bevölkerung;
- und soziale Kriterien bei den Kommunisten, gegen die traditionellen Eliten, die mit ihren Familien in der UDSSR deportiert wurden.
Die Siege der Armeen Hitlers und Stalins zwischen September 1939 und Juni 1941 ließen einen Moment lang das Schlimmste befürchten: vom Atlantik bis zum Pazifik und von der Arktis bis zum Mittelmeer könnte die alte europäische Zivilisation - Wiege des Christentums und der Demokratie - durch zwei gigantische totalitäre Systeme zerstört werden.
Der Angriff Deutschlands auf die UDSSR am 22. Juni 1941 eröffnete die schlimmste Phase des Massengemetzels. Ab Juli 1941 betrieben die Nazis die „Endlösung der jüdischen Frage“ und töteten die Juden aus der UDSSR, dehnten das Massaker zu einem Genozid auf ganz Europa aus, bei dem mehr als 5 Millionen Menschen zu Tode kamen und die jüdische Welt in Mittel- und Osteuropa ausgelöscht wurde.
Die Nazis führten auch einen Vernichtungskrieg gegen die „Slawen“, indem sie mehrere Millionen sowjetische Gefangene an Hunger sterben ließen.
Das sowjetische Regime stand dem nicht nach, es wurden wenige Gefangene gemacht und 1944 und 1945 wurden ganze Völker aus dem Süden Russlands, darunter die Tschetschenen und Krimtataren deportiert und die gesamte deutsche Bevölkerung aus Ostpreußen vertrieben.
Diese Gewalttaten von ungeheurem Ausmaß und unermesslicher Grausamkeit schienen einen Moment lang den Krieg des 20. Jahrhundert auf eine Stufe mit den barbarischen Kriegen des Altertums zu stellen, als die Besiegten abgeschlachtet oder in die Sklaverei verschleppt wurden und ganze Städte und Völker vom Erdboden verschwanden.
Ein eigenwilliger „Fortschritt der Zivilisation“, der in ganz Europa bis heute unauslöschliche Spuren und noch immer spürbare Narben hinterlassen haben.
Im Rahmen der Nürnberger Prozesse 1945-1946 erhielten natürlich Trauer und das Gedenken an die Opfer ihren Platz. Und die Verherrlichung des Naziregimes wurde weltweit verurteilt.
Im Dezember 1948 nahm die UN-Hauptversammlung auf Initiative des polnischen jüdischen Juristen Rafael Lemkin, der den Begriff „Genozid“ geprägt hat, eine Resolution zur Verurteilung dieser Massenverbrechen an.
Demgegenüber wurde in Europa ab der Vorkriegszeit und insbesondere ab 1945 bis in die achtziger Jahre hinein der Kommunismus immens verherrlicht, basierend auf der Beteiligung der roten Armee an der Niederschlagung Nazideutschlands, auf der Teilnahme der kommunistischen Parteien - ab 22. Juni 1941 - am antifaschistischen Widerstandskampf und schließlich auf dem Mythos der „Befreiung“ der Länder Mittel- und Osteuropas in den Jahren 1944-1945 durch die UDSSR.
Eine „Befreiung“, die mit der Sowjetisierung bzw. der Vergemeinschaftung von zwölf bis dato eigenständigen europäischen Ländern einherging, denen kommunistische totalitäre Diktaturen aufgezwungen wurden.
Seit 1945 entwickelte sich in der UDSSR sowie in den Ländern der „Volksdemokratien“ und auch in Westeuropa unter dem Einfluss der kommunistischen Parteien eine starke Tendenz zur Verherrlichung des Kommunismus, indem der Sieg über den Nazismus geschickt mit der angeblichen Überlegenheit des politischen und sozialen Modells des Kommunismus vermischt wurde.
Erst der November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kommunismus in Osteuropas sowie der Dezember 1991 mit der Auflösung der UDSSR brachte diese Verherrlichung des Kommunismus zu Fall, bewirkt durch die neugewonnene Redefreiheit der unzähligen Opfer der kommunistischen Regimes, durch die Öffnung der Archive des Kommunismus und durch die Arbeit der Historiker.
Die Veröffentlichung des Schwarzbuch des Kommunismus in Frankreich im November 1997 sowie danach in den meisten europäischen Ländern leistete einen enormen Beitrag zur öffentlichen Wahrnehmung der immensen Tragödie des Kommunismus.
Mehr als zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hält Europa beharrlich an drei unterschiedlichen Auffassungen vom Kommunismus fest.
In einem Großteil der Länder Mittel- und Osteuropas und insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine gilt der Kommunismus weithin als immense Tragödie, geprägt durch die Invasion der roten Armee, Massenterror und fünfundvierzig Jahre Diktatur, Zensur und Isolation.
Demgegenüber hält Westeuropa, das dank dem Schutz Amerikas nach 1945 in Frieden und Wohlstand leben konnte, oft an einem positiv besetzten Bild des Kommunismus fest. Gründe dafür sind zum einen die Erinnerung an die, laut François Furet „weltweite Anziehungskraft des Oktobers“, zum anderen der Antifaschismus der Dreißigerjahre – Volksfront, Spanienkrieg, usw. – sowie das Engagement der Kommunisten im Widerstand gegen die Besetzung durch die Nazis bzw. Faschisten ab 22. Juni 1941.
Eine immense kommunistische Propaganda hat ein halbes Jahrhundert lang zur Schaffung einer Hypermnesie bei Verbrechen des Nationalsozialismus und des Faschismus und einer Amnesie bei Verbrechen des Kommunismus beigetragen.
Im Falle Russlands ist die Erinnerung zweigeteilt und schwankt zwischen Tragödie und Glorifizierung.
Einerseits sind die Spuren der Erinnerung an Terror, Gulag und Diktatur in der gesamten Gesellschaft vorhanden, wobei ein Teil zur Kategorie der Opfer zählt, der andere Teil zu Machthabern und Tätern – oder möglicherweise zu beiden Kategorien.
Auf der anderen Seite setzt sich die derzeitige Regierung für den Wiederaufbau einer russischen Identität ein, ausgehend von der Erinnerung an den Krieg, an den Sieg über Nazideutschland und auch die Erinnerung an das Zarenreich wird herangezogen. Ausgeblendet werden dabei die Massenverbrechen des Bürgerkrieges und der Dreißigerjahre sowie der Zeit zwischen 1939-1941 sowie 1944-1953, als die Annexion/Sowjetisierung und Vergemeinschaftung von zwölf Ländern vorbereitet wurde, die Wladimir Putin noch im Mai 2005 als eine „Befreiung“ darstellte.
Ein wichtiger Schritt indes auf dem Wege der Wiedervereinigung der Erinnerungskultur erfolgte am 25. Januar 2006, als von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats auf der Grundlage des Berichts des Abgeordneten Göran Lindblad eine Resolution zur Verurteilung der Verbrechen kommunistischer Regime angenommen wurde.
Dabei ist es symptomatisch, dass ein Teil der Abgeordneten dagegen gestimmt hat. Dies beweist wie schwierig die Durchsetzung der Anerkennung der immensen Tragödie der unzähligen Opfer kommunistischer Regime ist.
Das Europäische Parlament folgte am 2. April 2009 mit der Entschließung „Das Gewissen Europas und der Totalitarismus“.
Dennoch sind wir noch weit entfernt von einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur, die eine gleichberechtigte Wahrnehmung der von den großen totalitären Systemen, Nazismus, Faschismus und Kommunismus, ausgelösten Tragödien beinhaltet.
Es ist somit unbedingt erforderlich, dass die junge Generation, die in einem friedlichen und wiedervereinigten Europa zur Welt gekommen ist, diese erinnerungs- und geschichtsrelevanten Herausforderungen versteht.
Um so wichtiger ist die von der Europäischen Plattform für Erinnern und Gewissen eingebrachte Initiative zur Veröffentlichung eines gemeinsamen Buches der gesamten europäischen Jugend in mehreren Sprachen, in dem an die Namen von Männern und Frauen verschiedener europäischer Länder erinnert wird, die unter Einsatz ihres Lebens der totalitären Unterdrückung Widerstand entgegengesetzt haben und damit das höchste Ideal, das Europa der Welt zu bieten hat, verteidigt haben: Toleranz, Meinungsfreiheit, Ablehnung von Extremismus, Wahrung der Rechtsstaatlichkeit sowie demokratische und parlamentarische Kultur als oberster Vorbedingung für nationalen und internationalen Frieden.
Die jungen Generationen müssen sich des Privilegs bewusst sein, das ihren Großeltern nicht zur Verfügung stand: in einem wiedervereinigten, friedlichen und demokratischen Europa zu leben.
Und sie müssen auch begreifen, dass die Aufrechterhaltung dieses Privilegs einen täglichen Kampf impliziert. Nichts ist für immer sicher…
Übersetzt aus dem Französischen von Heidelind Salzmann, Dresden.