Ansprache von Herrn Wojciech Więckowski, Titularbotschafter,
Leiter der Filiale Leipzig, Stellvertretender Direktor des Polnischen Instituts Berlin, anlässlich der feierlichen Eröffnung der Ausstellung "Verurteilt. Inhaftiert. Hingerichtet. Politische Justiz in Dresden 1933-1945 // 1945-1957" am 10.12.2012 in Dresden
Sehr geehrte Staatsministerin Frau Prof. von Schorlemer,
Magnifizenz, Herr Rektor Müller-Steinhagen,
Sehr geehrte Frau Generalkonsulin Krejčiková,
Sehr geehrte Frau Dr. Sack,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
besonders herzlich möchte ich die Töchter und Enkel der polnischen Opfer begrüßen, die heute bei uns sind:
Frau Eugenia Wojtczak, Tochter von Antoni Malanowski , Frau Maria Weychan-Nowak, Tochter von Bodgan Weychan, Frau Lidia Marschewska, Tochter von Jan Wilanowski, Frau Danuta Szymaniak und Herr Marcin Szubert, Tochter und Enkel von Stanislaw Wesołowski. Ich begrüße auch die aus Polen angereiste Frau Aleksandra Kuligowska, Vertreterin des Instituts für Nationales Gedenken aus Poznań und Pfarrer Leszek Smaglinski, aus der römisch-katholischen Gemeinde Dresden-Plauen,
Sehr geehrte Damen und Herren,
9,6,3,5 und 5,8,2,3,7. Die eben gehörten Ziffern begleiten mich mein ganzes Leben. Mit diesen Ziffern begann ich Zahlen zu lernen und mit ihnen stellte ich meine ersten Berechnungen an, noch bevor ich in die Schule kam. Als ich dann in die erste Klasse kam, war ich arithmetisch gut vorbereitet. Aber warum gerade 9635 und 58237? Warum begann ich meine Zahlenkunde nicht mit 1, 2 und 3?
Die genannten Zahlen waren mir vertraut wie die Hände und Gesichter meiner Eltern, denn sie gehörten zu ihnen. Es waren die Zahlen, die man ihnen bei der Ankunft eintätowiert hatte, bei der Ankunft im deutschen Konzentrationslager Auschwitz, meinem Vater im Jahr 1941, und meiner Mutter in Auschwitz-Birkenau im Jahre 1943. Diese Nummern, vergeben im deutschen nationalsozialistischen Vernichtungslager, waren ein Zeichen dafür, dass sie dort nicht mehr als Menschen betrachtet wurden. Sie wurden zu namenlosen Nummern. Schließlich galten Polen als „Untermenschen“. Der Generalplan Ost sah vor, dass Ostmitteleuropa mit Deutschen zu besiedeln sei. Geplant war neben der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ unter anderem die Vernichtung oder „bestenfalls“ Vertreibung von 80–85 % der Polen sowie die Vernichtung oder Vertreibung von 50–75 % der Tschechen. Der Rest der polnischen Bevölkerung sollte „germanisiert“ oder versklavt werden.
Doch woher die Nummern auf den Armen meiner Eltern stammten und warum es sie gab, wussten lange Zeit weder mein zwei Jahre ältere Bruder, noch ich. Denn unsere Eltern verschwiegen uns, woher sie diese Nummern hatten. Als Kind war ich stolz und fand es lustig, dass meine Eltern tätowiert waren. Heutige Kinder könnten für dieses Gefühl das Wort „cool“ gebrauchen. Unsere Eltern sprachen vor uns nicht darüber. Sie erzählten uns vom Guten im Menschen, erklärten uns, dass Menschen in aller Welt gleichwertig seien, dass jeder Mensch gleichermaßen Achtung verdiene. Kurz – sie erklärten uns, dass Menschen unabhängig von Hautfarbe, Nationalität oder Religion gleiche Rechte genießen, und dass sie Träger der einen Menschenwürde seien. Sie wollten uns schonen und das Gute betonen.
Unweigerlich kam aber der Moment, in dem ich verstand, was sich hinter diesen Tätowierungen verbarg. Ich war noch ein Kind, und es war für mich ein Schock.
Später, als ich begann stärker selbstständig und reifer zu denken, dachte ich darüber nach: Was konnte ich mit diesem Wissen tun, das derart emotional aufgeladen war und das mit dem jungen Verstand kaum zu erfassen war? Mein Lebensweg führte mich in die Richtung der deutsch-polnischen Verständigung. Bereits als Gymnasiast und dann Jura-Student reiste ich ins noch geteilte Deutschland, in beide Teile. Ich wollte nicht im Zorn und in der Wut stehen bleiben. Ich habe aus meinem Wissen und der Erfahrung meiner Familie Schlussfolgerungen gezogen und bin überzeugt, dass sie richtig waren. Der Weg zur Versöhnung verlief nicht ohne Hindernisse, auch nicht mein individueller. Er setzte immer Verständigung und Verständnis sowie Empathie auf beiden Seiten voraus.
Heute stehe ich hier in Dresden am Tag der Menschenrechte und darf zu Ihnen sprechen. "Verurteilt. Inhaftiert. Hingerichtet. Politische Justiz in Dresden 1933-1945 // 1945-1957" so lautet der Titel der neuen Dauerausstellung, die über diesen Ort des Todes und seine Geschichte berichtet. Ich möchte besonders an die polnischen Opfer erinnern, die hier verurteilt, inhaftiert und hingerichtet wurden. Erinnern möchte ich stellvertretend an Jan Kaźmierczak, der 1924 geboren wurde und hier 1942 im achtzehnten Lebensjahr hingerichtet wurde, weil er zum polnischen Widerstand gehört hatte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Gedenken hat seine Rituale und wir brauchen Rituale. Sie erinnern uns und unsere Gesellschaft daran, welche Grenzen wir uns selbst setzen und warum. Daher ist auch die Erinnerung, die Ritual ist, bedeutend. Gerade heute, wo wir immer wieder mit erschreckenden Zahlen und Fakten über rechtsextreme Gedanken, aber auch über Terrorzellen versorgt werden. Aber die ritualisierte Erinnerung kann nicht alles sein. Die ritualisierte Erinnerung kann nur einen Anstoß geben für persönliche Erinnerung und das persönliche Gedenken.
Jede Erinnerung hat einen konkreten Ort und oft sind uns diese Gedenkstätten unangenehm. Denn die Orte des Todes, die Orte, an denen unsägliches Leid zugefügt wurde, würden wir gern meiden. Doch wir müssen uns auch diesen Orten stellen. Sie bieten uns einen Punkt, von dem wir Energie beziehen können, einen Fixpunkt, von dem wir uns immer wieder abstoßen können, um auf das Böse in der Geschichte, aber auch in der Gegenwart, unsere Antwort zu geben. Es ist wie im Schwimmbecken, wenn wir tauchen. Vom festen Boden des Schwimmbeckens können wir uns mit den Beinen kraftvoll abstoßen. Vom Wasser aber nicht. So ist die Auseinandersetzung mit historischen Orten wie sie hier an der Gedenkstätte Münchner Platz stattfindet, unerlässlich für die Gesellschaft. Denn gerade hier, an diesen Orten, an denen Tiefpunkte der Geschichte liegen, können unsere Augen geöffnet werden für die Missachtung der Würde des Menschen – auch heute. Das Gedenken schärft unsere Sinne, schärft unser Gewissen als einzelne Person und als Gesellschaft.
Daher bin ich dankbar dafür, dass wir gemeinsam der Opfer der politischen Justiz gedenken. Bei allen Unterschieden gedenken wir hier der Opfer des Nationalsozialismus, der einst offiziellen Ideologie des deutschen Staates, ebenso wie der Opfer der DDR-Strafjustiz unter kommunistischer Staatsideologie. Denn das Gedenken ist der Ausgangspunkt für das „Nie wieder“, das uns über die Ländergrenzen verbindet, das ein Fundament der europäischen Idee ist. Die Einheit Europas funktioniert auf dem Fundament demokratischer Werte – dazu gehört eine unabhängige Justiz, die den freiheitlich demokratischen Grundwerten verpflichtet ist. Und eine Justiz, welche die Todesstrafe ablehnt.
Ich möchte Ihnen für diese Ausstellung danken und Sie ermutigen, Ihre Gedenkstättenarbeit auch in Zukunft besonders für Jugendliche zu öffnen. Ich erinnere hier an das deutsch-polnische Projekt des St. Benno-Gymnasiums, unter der Leitung von Herrn Martin Bertram, bei dem die Schüler das Schicksal der hier im Alter von 23 Jahren ermordeten Polin Janina Lech erforschten. Sie hatte sich nach dem Einmarsch der Deutschen gegen die Zwangsgermanisierung gerichtet.
Wir dürfen Orten wie diesen, Orten der Erinnerung an unsägliches Unrecht und Leid nicht entfliehen, wir müssen uns der Erinnerung stellen. Winston Churchill wird folgendes Zitat über Geschichte zugeschrieben: „Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.“ Ich denke, die Auseinandersetzung mit Orten des Unrechts gibt uns Energie, immer wieder neu für die Würde des Menschen einzutreten.
Nutzen wir diese Energie im vereinten Europa, das nur auf Basis der Achtung der Menschenwürde ein freies, vereintes und demokratisches Europa sein wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!