Einem Familiengeheimnis auf der Spur
09.12.21
Die 93-jährige Marie Růžena Nohova aus Novosedlice hatte seit Jahren den dringenden Wunsch, nach Dresden zu fahren, um eine Grabanlage mit den Namen aller tschechischen Hingerichteten zu besuchen, die es dort geben soll. Sie hoffte, dort auf den Namen ihres älteren Bruders Karel Podzemský (geb. 19.11.1920) zu stoßen, der am 18. August 1944 im Alter von nur 23 Jahren in Dresden hingerichtet worden war.
Karel Podzemský war in Košťany, im tschechoslowakisch-deutschen Grenzgebiet geboren. In den 1920er-Jahren zog die Familie nach Výčapy bei Časlav. 1939 ging Karel Podzemský der Arbeit wegen ins "Altreich", zuletzt war er in Dresden beschäftigt. Viel war in der Familie über die Todesumstände nicht bekannt, sein Tod wurde mit dem Krieg in Zusammenhang gebracht. Eine Anfrage nach Kriegsende beim Roten Kreuz verlief ergebnislos. Marie Růžena Nohova reiste mit weiteren Familienangehörigen in den 1950er-Jahren nach Dresden, um mehr über die Umstände des Todes ihres Bruders und seines Verbleibs zu erfahren. Ihre Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht. Ihr wurde lediglich der Ort in der Dresdner Mathildenstraße gezeigt, wo sich bis zu den Bombenangriffen auf Dresden ein Gerichtsgefängnis befunden hatte, in dem Karel Podzemský inhaftiert gewesen war.
Am 24. November 2021 fuhr Pavla Plachá vom Ústav pro studium totalitních režimů (USTR, Institut für die Erforschung totalitärer Regime), die gemeinsam mit Birgit Sack über die rund 900 tschechoslowakischen Staatsbürger:innen forscht, die in Dresden während des Zweiten Weltkriegs hingerichtet worden sind, zusammen mit Marie Růžena Nohova und ihrem Enkel nach Dresden. Dort erfuhren die Angehörigen von Birgit Sack, dass Karel Podzemský zuletzt als Schlosser in Dresden beschäftigt war und in der Dresdner Rosenstraße bei der Witwe Martha Müller, einer Gastwirtin, zur Untermiete wohnte. Zusammen mit anderen in Dresden arbeitsverpflichteten Tschechen war er 1943 verhaftet und ins Dresdner Polizeigefängnis eingeliefert worden. Das Verfahren wurde unter der Bezeichnung „Hochverratssache [Bohuslav] Rys und Andere“ geführt. Einer Notiz über eine telefonische Auskunft des Dresdner Generalstaatsanwalts Heinrich Jung (1892-1959) über das Verfahren ist zu entnehmen, es richte sich „gegen eine Anzahl von Protektoratsangehörigen, die in deutschen Betrieben beschäftigt waren, häufig zusammentrafen und durch deutschfeindliche Aussagen ihren Widerstandswillen betätigen, u. a. sei die Zukunft des Protektorats und die Wiedererrichtung des früheren tschechischen Staates erörtert und auch der Mord an SS-Obergruppenführer Heydrich gebilligt und verherrlicht worden“.
Mit Bohuslav Rys (13.1.1909-18.5.1943), unter dessen Namen die Ermittlungen der Dresdner Gestapo liefen, und Josef Štěpán (14.1.1917-18.5.1943) wurden zwei Beschuldigte vom Sondergericht Dresden auf Grundlage der Volksschädlingsverordnung zum Tode verurteilt. Dazu hieß es in der schon erwähnten Gesprächsnotiz lapidar, dass die „Hinrichtung der beiden Männer“, also von Bohuslav Rys und Josef Štěpán, „das Verfahren gegen die übrigen Beschuldigten in keiner Weise beinträchtigen“ würde. Zu diesen weiter Beschuldigten gehörte auch Karel Podzemský. Er und weitere Tschechen wurden seit dem Spätsommer 1943 in mehreren Verfahren vom Oberlandesgericht Dresden abgeurteilt. Das eigentliche Todesurteil des 2. Strafsenates des Dresdner Oberlandesgerichtes vom 11. Juli 1944 gegen Karel Podzemský konnte bisher nicht entdeckt werden. Im sog. Mordregister heißt es zum Urteilsgrund, die Verurteilten hätten „vom Oktober 1942 bis 1943 sich und andere im Arbeitseinsatz in Dresden befindliche Tschechen in übelster Weise zum Deutschenhaß“ aufgewiegelt und „mit gemeinsten und verwerflichsten Ausdrücken gegen den Führer“ gehetzt.
Das alles erfuhr Marie Růžena Nohova bei ihrem Besuch in Dresden. In der Erinnerung der Familie ist, wie sie berichtete, vor allem hängen geblieben, dass ihr Bruder in Briefen aus der Dresdner Haft immer wieder um die Zusendung von Lebensmittel gebeten habe, weil er an Hunger litt. Ein Verwandter, der ihn der Haft besuchte, habe ihn nicht wiedererkannt, weil er so schlecht ausgesehen habe. Fotos, die Marie Růžena Nohova mitbrachte, zeigen Karel Podzemský mit befreundeten Landsleuten in Dresden.
Nach dem Todesurteil wurde Karel Podzemský aus dem Gefängnis in der Mathildenstraße in das Hafthaus in der George-Bähr-Straße 5 in Dresden überführt. Hier verblieb er gut vier Wochen, bis ihm mitgeteilt wurde, dass das Gnadenverfahren abschlägig ausgefallen war. In dieser Zeit muss der gläubige Katholik auch Kontakt mit dem katholischen Gefängnisseelsorger Pater Franz Bänsch gehabt haben, denn dieser hat in seinen Aufzeichnungen den Namen von Karel Podzemskýs Vater und die Anschrift der Familie notiert.
Wenige Stunden vor seinem Tod verabschiedete sich Karel Podzemský von seinen Eltern und den drei Schwestern. Einen extra Gruß bat er, Marta Výtková zu übermitteln, seiner großen Liebe, die er aber nicht leben konnte, weil die Eltern seiner Freundin aus Standesgründen die Beziehung abgelehnt hatten.
Am 18. August 1944 wurde Karel Podzemský als letzter von insgesamt 19 Männern - bis auf einen Deutschen alles Tschechen - hingerichtet. Eine knappe Woche später, am 23. August 1943, wurde er zusammen mit drei weiteren am selben Tag hingerichteten Tschechen in einem Grab in mehreren Tiefen im Grabfeld N auf dem Neuen Katholischen Friedhof in Dresden bestattet. Eine namentliche Nennung der Bestatteten, von der Frau Nohova gehört hatte, gibt es hier nicht. Eine derartige Gedenkwand wurde 1976 auf dem Johannisfriedhof in Dresden eingeweiht, wo in den Kriegsjahren über 450, auf dem Neuen Katholischen Friedhof waren es 473 Tschechinnen und Tschechen, bestattet worden sind. Auf dem Neuen Katholischen Friedhof erinnert jedoch seit der frühen Nachkriegszeit im Grabfeld N ein Gedenkstein an die hier bestatteten Hinrichtungsopfer und zivilen Zwangsarbeiter:innen. Auch im Namen ihrer jüngeren Schwester Anča legte Marie Růžena Nohova dort einen selbst gestalteten Kranz zur Erinnerung an ihren Bruder nieder, den sie in so jungen Jahren verloren hatte. Im kommenden Sommer möchte sie zusammen mit ihrer Schwester Anča, die in Mähren lebt, wiederkommen.
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Nora Manukjan
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