Kunst als Widerstand – Dokumentation nationalsozialistischer Verbrechen durch sowjetische Kriegsgefangene
20.09.21
Der diesjährige Sensationsfund von privaten Erinnerungsfotos ehemaliger Wachsoldaten aus dem Kriegsgefangenenlager Zeithain brachte das sogenannte Stalag 304 (IV H) für kurze Zeit in die Schlagzeilen. Zurecht sind diese Aufnahmen eine wichtige historische Quelle für die Geschichte des Lagers, jedoch blickt man durch sie mit einem – wenn auch intimen – „Täterblick“ des Soldaten auf das Lager und seine Gefangenen. Der Umgang mit ihnen sollte dementsprechend kritisch sein.
Dass man jedoch oft auf solche Bilddokumente zurückgreifen muss, liegt nicht zuletzt daran, dass die Inhaftierten kaum Möglichkeit hatten, selbst welche anzufertigen. Illegale Abzüge von Häftlingsfotografen entstanden nur selten und unter Lebensgefahr. Zeichnen war ebenso verboten wie gefährlich, allein durch die Materialbeschaffung, und so verarbeiteten viele das Erlebte erst nach ihrer Befreiung künstlerisch.
Für das Kriegsgefangenlager Zeithain ist das Werk des sowjetischen Kriegsgefangenen und Künstlers Aleksandr Ivanovič Pachomov daher von immensem Wert. Er schaffte es nämlich, unter der Ägide der Widerstandsorganisation um den sowjetischen Schriftsteller Stepan Zlobin, der 1942 zusammen mit Pachomov nach Zeithain kam, mit ca. 100 Zeichnungen das Geschehen im Lager direkt zu dokumentieren. Die Gruppe betraute ihn mit dieser Aufgabe, um die Gräueltaten der Nationalsozialisten festzuhalten und nach Kriegsende zu beweisen.
Tatsächlich erhielten manche Gefangene von den deutschen Wachsoldaten Materialien, um für sie Familienporträts oder ähnliches im Tausch gegen Essensrationen anzufertigen. Von diesem Bestand organisierte man dann Papier und Stifte für Pachomov. Auftragszeichnungen wurden geduldet, Darstellungen des Lageralltags jedoch strengstens verboten, sodass immer ein Kamerad, oftmals Vassilij Tkačenko, für ihn beim Zeichnen Wache hielt. Alle Beteiligten setzten dabei ihr Leben aufs Spiel.
So dokumentierte Pachomov authentisch Hinrichtungen, Bestrafungen und die katastrophalen Lebensbedingungen im Lager, wurde von der Widerstandsorganisation zu diesem Zweck gar extra spezifischen Kommandos zugeteilt, wie zum Beispiel den Leichenträgern.
Neben diesen situativen Eindrücken versuchte er auch, seine Mitgefangenen der Entmenschlichung und Anonymisierung der NS-Administration zu entreißen und fertigte Einzelporträts an; vielen verstorbenen und in Massengräbern verscharrten Kameraden schaffte er damit ein letztes individuelles Andenken.
Von Aleksandr Pachomovs Zeichnungen haben sich nach seinen Angaben nur 21 erhalten, die Tkačenko in seinen Hosenbeinen versteckt aus Zeithain bis in die Sowjetunion brachte, wo sie anschließend in mehreren Städten ausgestellt wurden. Sie sind nicht nur ein wertvolles Zeugnis für die Geschichte des Lagers, sondern auch für die Selbstbehauptung der sowjetischen Häftlinge, die den offiziellen oder privaten Fotografien der Täter ihre eigene Sicht auf das Lager entgegenstellen.
Pachomov, wie auch einige Mitglieder der Widerstandsorganisation, überlebten die Gefangenschaft und konnten nach 1945 Angaben zum Gegenstand der erhaltenen Zeichnungen machen, die Pachomov 1966 in seinem Buch „Risunki krov’ju“ (Zeichnungen aus Blut) festgehalten hat. Somit dienen sie der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain heute als ergänzende Quelle zu offiziellen Dokumenten und Zeitzeugenberichten.
Nora Manukjan (Ausstellungsbetreuung, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit)
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