Wie Pirna die Narren von ihren Ketten befreite
Von Christian Eißner
Ein angesehener Bürger verfiel in einen hohen Grad von Manie. Acht Tage und Nächte hindurch tobte er auf eine furchtbare Weise, er zerschlug alle Fenster, zerriss seine Kleidungsstücke und Bettüberzüge, prügelte seine Wärter und zog sich immer ganz nackend aus“, schreibt Ernst Gottlob Pienitz, erster Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein, in einer 1829 veröffentlichten Krankengeschichte.
Pienitz fügt seine damals revolutionäre Behandlung des Patienten an: Tropfbäder, Einreibungen, Spaziergänge im Freien: „Diese Zerstreuung wirkte sehr wohltätig auf seinen Geist; er besserte sich jeden Tag zu meiner größten Freude.“
Die zitierte Krankengeschichte ist einem Buch entnommen, das der Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Boris Böhm, jüngst veröffentlicht hat.* Kenntnisreich, fundiert und gleichzeitig kurzweilig, gespickt mit Anekdoten und vielen aussagekräftigen Bilddokumenten, zeichnet Böhm die Geschichte der Heilanstalt Sonnenstein von ihren Anfängen 1811 bis 1939 nach.
König rückt die Festung raus
Die Gründung einer „Irrenanstalt“ in der Landesfestung Sonnenstein geht auf den sächsischen Konferenzminister Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänckendorf zurück. Er überredete Sachsens König Friedrich August I., die Festung zur Verfügung zu stellen, als sie für ihre ursprüngliche Aufgabe nicht mehr benötigt wurde. Im Februar 1811 unterschrieb der König die entsprechende Verfügung, und bereits am 8. Juli desselben Jahres wurde die „Königlich Sächsische Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein“ eröffnet.
Nostitz lag der Erfolg der Anstalt und die Idee eines neuen Umgangs mit Geisteskranken sehr am Herzen. Er wollte hier seinen Wunsch verwirklichen, ein Musterinstitut zu formen. Offenbar war es auch seine Entscheidung, den Torgauer Arzt Ernst Gottlob Pienitz zum Anstaltsleiter zu berufen. Eine Entscheidung, die sich als absolut richtig erweisen sollte, denn Pienitz zählt heute zu den bedeutendsten Pionieren der deutschen Anstaltspsychiatrie.
Das Gute fördern
„Die Therapiemodelle fußten auf der Vorstellung, wenn das Gute im Menschen gefördert werde, würden die Irritationen der Seele als eigentliche Krankheitsursache verdrängt“, schreibt Boris Böhm. Man bot den Patienten in einem streng geregelten Tagesablauf Behandlungen, Beschäftigung, Zerstreuung, Gespräche und Pflege an, statt sie, wie bis dato üblich, wegzusperren oder in Ketten zu legen.
Wegen ihrer Einzigartigkeit und der großen Heilerfolge erlangte die Heilanstalt unter Pienitz in kürzester Zeit einen herausragenden Ruf in Europa und darüber hinaus. „Wie ein Magnet zog die Anstalt Besucher aus ganz Europa an“, schreibt Böhm. Nicht nur Ärzte und Verwaltungsbeamte kamen zum Hospitieren, sondern auch Schriftsteller sahen sich auf dem Sonnenstein um. Selbst Johann Wolfgang von Goethe machte auf einer Reise nach Teplitz 1813 in Pirna Station – wegen der Anstalt. Sie „soll vortrefflich sein“, schrieb er seiner Frau Christiane.
Nachricht bis Amerika
Die europäischen Herrscherhäuser bis hin zum Hof des russischen Zaren wollten über die Anstalt informiert sein, und auch in den ersten Reisebeschreibungen der Sächsischen Schweiz taucht sie auf. „Ich muss gestehen, dass ich sie selbst mir besser nicht wünschen kann“, schreibt der Pfarrer Wilhelm Lebe-recht Götzinger in seinem Buch „Schandau und seine Umgebungen“ über die Heilanstalt. Bis in die USA wurden Konzept und Erfolg des Sonnensteins getragen.
Nicht nur dies erfährt man in Boris Böhms Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt. Er stellt unter anderem berühmte Patienten der Einrichtung vor, beschreibt das umfangreiche Baugeschehen auf dem Areal bis in die ersten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts und bettet die Entwicklung des Sonnensteins in die sächsische Psychiatriegeschichte ein.
Der 180-seitige großformatige Band, gesetzt und gestaltet von der Pirnaerin Anke Albrecht, ist nicht für psychiatrie-, sondern auch für stadtgeschichtlich interessierte Leser eine hochinteressante Lektüre. Absolut empfehlenswert.
*Dr. Boris Böhm: Die Sonne der deutschen Psychiatrie ging auf dem Sonnenstein auf. Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein 1811–1939. Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein, 2011. ISBN: 978-3-9813772-1-7