Otto Fickert (1903–1940)
Otto Fickerts Leidensweg steht stellvertretend für die zahlreichen Mitglieder der „Internationalen Vereinigung ernster Bibelforscher (IBV)“ (seit 1931 Zeugen Jehovas), die im Konzentrationslager Sachsenburg in „Schutzhaft“ waren. Anfang der 1930er-Jahre lebten etwa 25 000 Zeugen Jehovas in Deutschland.
Otto Johannes Fickert sen. wurde am 2. Oktober 1903 in Glauchau geboren. Nach dem Besuch der Schule erlernte er das Friseurhandwerk. Er war mit der um sechs Jahre jüngeren Herta Leipelt verheiratet, die aus der Hansestadt Lübeck stammte. Die Eheleute hatten zwei Kinder: Liesel und Otto. Seit dem Jahr 1929 lebten die überzeugten Bibelforscher in der Gemeinde Sachsenburg und führten dort im Haus Nr. 62 ein Friseurgeschäft. Sie hatten wegen ihrer Glaubensausübung nicht nur mit den Ortsbehörden Schwierigkeiten, sondern auch mit ihrem Vermieter Max Schreckenbach. Der Schmied war zugleich ihr Nachbar. Er verhielt sich von Anfang an äußerst unfreundlich gegenüber den neuen Mietern, wie sich Herta Fickert 1948 erinnerte. Sie ging davon aus, dass dies ausschließlich an ihrer Zugehörigkeit zur „Vereinigung der Bibelforscher“ lag. Die Eheleute bekamen viel Besuch von Glaubensgeschwistern, was mit ihrer örtlichen Rolle in deren Hierarchie zusammenhing. So wurde auch in der Wohnung oft gemeinsam gesungen, was Schreckenbach ebenfalls missfiel. Noch weniger gefiel diesem, dass sich seine Mieter nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten weder an Versammlungen noch an Geldsammlungen oder an Umzügen bzw. sonstigen Veranstaltungen beteiligten. Zu guter Letzt verweigerten die Eheleute Fickert staatsloyale Gesten wie das Hissen jeglicher Flaggen, also auch der Hakenkreuzflagge. Dies rief noch mehr den Unfrieden und den Zorn des Hausbesitzers hervor.
Ausschlaggebend für die spätere Strafanzeige war möglicherweise, dass sich die Eheleute Fickert nicht an der Reichstagswahl vom 5. März 1933 beteiligt hatten. Hedwig Merkel, eine Glaubensschwester, bemerkte in diesem Zusammenhang, dass die Wahlhelfer nach der Auswertung der Wählerlisten die säumigen Bürger holen sollten. Otto Fickert wäre aber auch dieser Aufforderung nicht nachgekommen. Die Situation der Eheleute verschlechterte sich nach dem Verbot ihrer Religionsgemeinschaft am 18. April 1933 in Sachsen zusätzlich. Büros und Wohnungen von Funktionären wurden von der Polizei durchsucht, jedoch blieben gezielte Übergriffe wie bei Kommunisten oder Sozialdemokraten aus.
Schreckenbach sammelte all diese „erbärmlichen Argumente“, wie sich Herta Fickert bei einer späteren Befragung 1948 ausdrückte, und übermittelte diese Vincenz Parma, der von Juli 1933 bis April 1935 Ortsgruppenleiter der NSDAP in Sachsenburg war. Jener hatte Schreckenbach mehrfach aufgefordert, Angaben über Fickerts Verhalten zu sammeln. Für die Witwe stand später fest, dass dies alles ausreichte, um ihren Ehemann wegen „staatsfeindlicher Gesinnung“ am 11. März 1935 in „Schutzhaft“ zu nehmen. Vorausgegangen war eine Anzeige gegen ihn, die bei der Amtshauptmannschaft Flöha eingegangen war, woraufhin zunächst eine Haussuchung stattfand. Möglicherweise fand die Verhaftung auch schon im Jahr 1934 statt, wie die Ehefrau nach Kriegsende zu Protokoll gab. Bevor damals Zeugen Jehovas von den Nationalsozialisten in ein KZ überführt wurden, „verwarnten“ diese sie in der Regel mit einer kurzen Haft in Polizeigewahrsam. Dies traf mit Sicherheit auch auf Otto Fickert zu.
Die Verhaftung nahm der Chemnitzer Kriminalsekretär Hermann Matthes vor, der der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) angehörte. Otto Fickert wurde in das von seiner Wohnung nur wenige hundert Meter entfernt gelegene KZ Sachsenburg überstellt, wo er bis zum 19. Mai 1935 bleiben musste. Sofort nach der Verhaftung kündigte Schreckenbach der Ehefrau Geschäft und Wohnung. Nur durch den vorübergehenden Schutz der Sachsenburger Polizei konnte sie mit ihrer Familie weiterhin in der dortigen Wohnung bleiben. Das Friseurgeschäft konnte sie erst nach der Freilassung ihres Ehemannes wieder öffnen.
Kaum in Freiheit wurde Otto Fickert erneut verhaftet. Er hatte im Herbst 1935 eine illegale Bibelstunde organisiert, die in einer Privatwohnung auf dem Schloss Sachsenburg stattfand. Die SA, die davon erfuhr, löste die Veranstaltung auf und notierte sich die Namen aller Beteiligten. Diese erhielten daraufhin ein vierteljährliches Ausgehverbot, um sie so am weiteren Missionieren zu hindern. Parma, der damals in Sachsenburg wohnte und 1935 wegen Unterschlagung aus der NSDAP ausgeschlossen worden war, gab im März 1948 gegenüber den Ermittlungsbehörden in Flöha an, dass Fickert 1935 wohl auch in der Gaststätte „Zum Auengrund“ (Haus Nr. 64) Flugschriften verteilt hätte.
Laut Angaben von Herta Fickert wurde ihr Ehemann im Herbst 1935 wieder in das KZ Sachsenburg gebracht, diesmal für acht Wochen. Dank eines Gehilfen konnte seine Ehefrau das Geschäft weiterführen und somit den Lebensunterhalt der Familie sichern.
Die weitere Verfolgungschronik lässt manche Fragen offen, da seine Ehefrau selbst Opfer der NS-Justiz wurde. Dies hing mit dem entschiedenen Vorgehen der Gestapo gegen die Bibelforscherbewegung ab Sommer 1936 zusammen. Im „Stürmer“, dem Hetzblatt der Nationalsozialisten, wurden die Zeugen Jehovas als die „hirnverrücktesten, dümmsten und erbärmlichsten Judenknechte, die auf Gotteserden herumlaufen“, gebrandmarkt. Neue Verhaftungswellen setzten ein, die insbesondere die Zeugen Jehovas in Sachsen betrafen.
Die Eheleute Fickert wurden im Frühjahr 1937 (vermutlich im April) von der Gestapo verhaftet und im Polizeigefängnis in Chemnitz verhört. Herta Fickert wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Nach ihrer Entlassung übte sie das Amt der Gruppendienerin in Sachsenburg und Frankenberg weiterhin aus. Als solche oblag ihr die Aufgabe, Literatur (u. a. die Zeitschrift „Der Wachturm“) zu übernehmen und an die Gruppe der Gläubigen zu verteilen, von dort Informationen und Spendengelder zu sammeln und an die Bezirksebene abzuführen. Monatlich erhielt sie fünf bis acht Ausgaben des „Wachturm“. Damit war sie in der Lage, etwa 20 bis 40 Reichsmark für die illegale Arbeit der IBV an den Bezirksdiener abzuführen. Im Juli 1937 war sie sogar einverstanden, die Zeugen Jehovas in Flöha als Gruppendienerin zusätzlich zu übernehmen.
Der Bezirksdiener hatte sie bei einer illegalen Besprechung diesbezüglich in ihrer Wohnung angesprochen. Das Treffen hatte zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als das Konzentrationslager in der Gemeinde Sachsenburg aufgelöst wurde. Herta Fickert nahm damals an, dass in dem Lager „etwa 1 500 politische Gefangene“ untergebracht waren. Zuletzt hätten sich dort 35 Zeugen Jehovas befunden.
Später wurde Herta Fickert vom Sondergericht Freiberg zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Strafe verbüßte sie in den Jahren 1938/39 im Leipziger Frauengefängnis in Klein-Meusdorf. Ihre Kinder wurden von Amts wegen bei ihren Eltern in Lübeck untergebracht.
Im Unterschied zu seiner Ehefrau kam Otto Fickert nicht mehr aus der Haft frei. Vom Sondergericht Freiberg wurde er am 23. September 1937 zu zwei Jahren Gefängnis wegen „Zuwiderhandlung gegen das Verbot der Internationalen Vereinigung ernster Bibelforscher“ verurteilt. Die Haftstrafe verbüßte er im Zuchthaus Bautzen. Vermutlich wurde er im Steinbruch Heeselicht (heute Ortsteil von Stolpen) zur Zwangsarbeit eingesetzt. Nach dem Ende der Haftzeit am 23. März 1939 wurde Fickert auf Anordnung der Gestapo wieder nach Chemnitz überführt. Der Bürgermeister von Sachsenburg war zuvor angewiesen worden, den Entlassenen überwachen zu lassen.
Die „Rückführung“ von entlassenen Zeugen Jehovas diente der Feststellung, ob der „Strafzweck“ erreicht sei. Deshalb wurden Fickert im Polizeigefängnis viele „heikle“ Fragen gestellt, um seine „Unbelehrbarkeit“ zu offenbaren. So sollte er unter anderem Angaben zu seiner Militärzeit machen. Da er den Großteil der ihm vorgelegten Fragebögen nicht unterschrieb, wurde er zwei Stunden lang schwer misshandelt. Voller Verzweiflung schnitt er sich daraufhin mit den Glasscherben seiner zerbrochenen Brille die Pulsadern auf. Er wurde jedoch gerettet.
Im März 1939 wurde Fickert in das KZ Sachsenhausen überstellt, wo er als „Schutzhäftling/Bibelforscher“ geführt wurde. Er wurde dem Häftlingsblock 12 zugeordnet. Über Fickerts Haft in Sachsenhausen liegen keine weiteren Angaben vor. Bekannt ist nur, dass er von dort regelmäßig seiner Ehefrau, die mittlerweile wieder in ihrer Geburtsstadt lebte, schrieb. Am 14. Januar 1940 erhielt sie vermutlich den letzten Brief von ihrem Ehemann. Am 8. Februar 1940 erhielten Otto Fickerts Schwiegereltern ein Telegramm mit dem kurzen Wortlaut: „Schwiegersohn Otto an Herz- und Kreislaufschwäche verstorben – Kommandant“. Er war am Mittag des 7. Februar 1940 den unmenschlichen Haftbedingungen erlegen. Daraufhin fuhr die Witwe nach Oranienburg, um sich von ihrem Ehemann zu verabschieden. Unter strenger Bewachung konnte sie jedoch nur einen Teil seines Gesichtes sehen. Der übrige Körper war mit Decken verhüllt und sie durfte diese nicht entfernen. Gerade in den ersten Kriegsmonaten wurden die inhaftierten Zeugen Jehovas vor allem wegen der offenen Verweigerung des Kriegsdienstes von der SS unbarmherzig gequält. Einige Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes ging Herta Fickert eine neue Ehe ein und wohnte fortan in Bad Schwartau.
Im Dezember 1947 leitete die Polizeiabteilung der Landesregierung Sachsen gegen Parma und Schreckenbach strafrechtliche Ermittlungen ein. Laut Alfred Arnold, einem ehemaligen Mitglied der KPD in Sachsenburg, wurde Fickert ein Opfer der Denunziation von Schreckenbach. Bei einer Vernehmung hatte dies der Färbereiarbeiter am 19. März 1948 in der Dienststelle Flöha des Kriminalamtes Chemnitz bekräftigt. Schreckenbach hätte auch zu ihm gesagt, „dass er die ganze Sippschaft noch ausrotten“ wolle. Am 15. September 1948 beendete die Dienststelle die Ermittlungen, woraufhin Haftbefehle gegen die Beschuldigten erlassen wurden. Diese wurden am 15. Dezember 1948 vollstreckt. Bereits am 27. Januar 1949 fand vor der 5. kleinen Strafkammer des Landgerichtes Chemnitz die Hauptverhandlung unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsrates Paul Siegel statt. Parma und Schreckenbach wurden in die Gruppe der Kriegsverbrecher eingestuft und zu jeweils zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, wie dies Staatsanwalt Werner Röder beantragt hatte. Die Verteidiger hatten auf eine niedrigere Strafe plädiert, die unter Anwendung des Amnestiegesetzes fallen würde. Parma und Schreckenbach waren für schuldig befunden worden, „durch eine Denunziation Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben“. Außerdem wurde den Angeklagten eine Reihe von Sühnemaßnahmen auferlegt, die unter anderem Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Verlust des aktiven und passiven Wahlrechtes betrafen. Darüber hinaus wurde Schreckenbachs Hausgrundstück in Sachsenburg, in dem einst Otto Fickert und seine Ehefrau friedlich lebten und ihren Glauben ausübten, von der Sowjetischen Militäradministration in Sachsen (SMAS) eingezogen.
Text: Dr. Jürgen Nitsche
Zur Person
Nachname: | Fickert |
Vorname: | Otto |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 02.10.1903 |
Geburtsort: | Glauchau |
Sterbedatum: | 07.02.1940 |
Sterbeort: | KZ Sachsenhausen |
Letzter frei gewählter Wohnort: | Sachsenburg |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Sächsisches Staatsarchiv/Staatsarchiv Chemnitz, 39074 Objekt 14, ZA 54/0083, Ermittlungsunterlagen des Kriminalamtes Chemnitz Sächsisches Staatsarchiv/Hauptstaatsarchiv Dresden, 11027 Sondergericht für das Land Sachsen, Freiberg, Karton 344, 2 Js/SG 1435/37, Ermittlungsunterlagen des Sondergerichtes Freiberg |
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