Eine ganz gewöhnliche Anfrage – Werkstattbericht aus der Dokumentationsstelle Dresden in Zeiten der Corona-Pandemie
30.04.20
Der Dienstbetrieb in der Dokumentationsstelle Dresden läuft trotz der Coronavirus-bedingten Situation weitgehend normal weiter: Eine deutsch-russische Broschüre zur Klärung der Schicksale von sowjetischen Kriegsgefangenen sowie Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen während des Zweiten Weltkrieges in Sachsen befindet sich in der Endredaktion. Für eine neue interaktive Website zu Grabstätten sowjetischer Bürger in Sachsen wurden letzte Geodaten erfasst. Und täglich erreichen die Dokumentationsstelle Anträge auf Auskunft zu sowjetischen Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen, Gefangenen der sowjetischen Speziallager oder Verurteilten sowjetischer Militärtribunale (SMT).
Wie jene von Frau Dr. Baijayanti Roy, die am Historischen Seminar der Goethe Universität Frankfurt am Main in einem DFG-Projekt zur Indologie in NS-Deutschland forscht. Sie untersucht dabei, wie die Indologie als Wissen über Indien in der Propaganda und in der auswärtigen Kulturpolitik des „Dritten Reiches“ instrumentalisiert wurde. Frau Dr. Roy hat unter anderem über Albert Speer, über die Wahrnehmung des Holocaust in Indien und über Rückwirkungen der „Kristallnacht“ auf Pogrome in Indien publiziert.
Am 20. März 2020 fragte sie bei der Dokumentationsstelle nach Information zu Prof. Dr. Hermann Beythan an, der am 29. Mai 1875 bei Rudolstadt in Thüringen geboren wurde. Er war ein bekannter deutscher Indologe an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin. Am 20. September 1945 wurde er in Berlin verhaftet und galt seitdem als verschollen.
Die Prüfung der Datenbanken der Dokumentationsstelle ergab zu ihm drei Hinweise: Zum einen war er als „Hermann Beitan“ (Байтан Герман) erfasst, der am 18. November 2002 von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert wurde. Dem Bescheid über die Rehabilitierung war zu entnehmen, dass Beythan, von Beruf Schriftsteller, am 20. November 1945 vom Militärtribunal der Garnison Berlin nach § 58-2 Strafgesetzbuch der Russischen Föderativen Sowjetrepublik zu 10 Jahren „Besserungsarbeitslager“ verurteilt worden und am 25. Dezember 1945 in Haft verstorben war. Des Weiteren war er in einer Datenbank des DRK-Suchdienstes, die die Dokumentationsstelle für wissenschaftliche Zwecke nutzen darf, als „Hermann Boitan“ erfasst. Als Sterbeort war das „Speziallager Torgau“, als Todesursache „Dystrophie“ vermerkt. Und schließlich fand sich sein Name in der Akte eines Mitverurteilten, die auf Vollmacht von Angehörigen im Archiv des FSB in Moskau hatte eingesehen werden können.
Der Prozess richtete sich gegen zwei weitere Personen, und zwar gegen den Hauptbeschuldigten Georg Rindfleisch, der zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, sowie gegen Herbert Ziros, der zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde und wie Beythan in Gefangenschaft verstarb. Alle drei waren während der Zeit des Nationalsozialismus journalistisch tätig. Hermann Beythan wurde vorgehalten, sechs Artikel verfasst zu haben, mit denen er das indische Volk in den Krieg gegen die Sowjetunion habe hineinziehen wollen.
Aufgrund des Hinweises auf das „Speziallager Torgau“ fragten wir bei unseren Kollegen im Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau an. Die Anfrage ergab, dass der Sohn Hans-Christoph Beythan das DIZ bereits im Oktober 1997 besucht hatte, nachdem er vom DRK-Suchdienst die Mitteilung erhalten hatte, sein Vater wäre im Speziallager in der Torgauer Seydlitz-Kaserne verstorben. Herr Beythan jr. überließ dem DIZ einen schriftlichen Bericht über die Umstände der Verhaftung und über die Versuche seiner Mutter, die Freilassung von Hermann Beythan zu erreichen. Im DIZ Torgau befindet sich außerdem eine Liste verstorbener und entlassener Verurteilter aus dem „Speziallager Nr. 10 zwischen dem 25.12.1945 und dem 1. August 1947“, die unter der Nr. 14 „Hermann Boitan“ aufführte. Sie stammt aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) und gelangte Ende der 1990er-Jahre im Zusammenhang mit einem großen deutsch-russischen Forschungsprojekt nach Torgau.
Allerdings passten die Informationen nicht zueinander: In der Torgauer Seydlitz-Kaserne befand sich im Dezember 1945 das Speziallager Nr. 8 und dort nur Internierte, das heißt keine Verurteilten sowjetischer Militärtribunale (SMT). Das Speziallager Nr. 10 wiederum wurde erst im Frühsommer 1946 im Torgauer „Fort Zinna“ eingerichtet. Und warum sollte der in Berlin verurteilte Hermann Beythan überhaupt in Torgau inhaftiert gewesen sein? Die Unstimmigkeiten lassen sich wie folgt aufklären: Das Speziallager Nr. 10 in Torgau war eine Nachfolgeeinrichtung des „Gefängnisses Nr. 7“ in Frankfurt/Oder. Da bekannt ist, dass vom Militärgericht der Berliner Garnison in Berlin-Lichtenberg Verurteilte nach dem Prozess nach Frankfurt/Oder verlegt wurden, ist es sehr wahrscheinlich, dass Hermann Beythan im sowjetischen Gefängnis Nr. 7 in Frankfurt/Oder verstorben ist, dessen Registratur vom späteren Lager Nr. 10 in Torgau fortgeführt wurde. So konnte der Verbleib von Hermann Beythan durch die Anfrage von Dr. Baijayanti Roy im Zusammenwirken von Dokumentationsstelle Dresden und DIZ Torgau erfolgreich aufgeklärt werden.
Zugegeben: Um eine „ganz gewöhnliche“ Anfrage handelte es sich nicht. Doch außergewöhnlich sind solche Anfragen wie jene von Frau Dr. Roy schon lange nicht mehr. Im ersten Quartal beantwortete die Dokumentationsstelle unter anderem Anfragen aus Dänemark (zum stellvertretenden Reichsbeauftragten für Dänemark in der NS-Zeit) und aus Israel (zu verfolgten Dresdner Juden). Fast 400 Anfragen erreichten die Dokumentationsstelle aus der ganzen Welt von Angehörigen sowjetischer Kriegsgefangener.
Kontakt:
Dr. Bert Pampel, Leiter der Dokumentationsstelle Dresden | Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Tel. 0351 4695548
bert.pampel@stsg.de
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