Unbekannte sowjetische Soldaten der Anonymität entrissen – das Beispiel Stalag VI F Bocholt
19.11.10
Auf dem heutigen Gelände des Stadtwaldes Bocholt errichtete das Hilfswerk Nordwest der NSDAP 1935 ein Auffanglager für rund 1000 österreichische Nationalsozialisten (die sogenannte Österreichische Legion), die im Zuge eines gescheiterten Umsturzversuchs 1934 aus Österreich geflohen waren.
Der Putsch österreichischer Nationalsozialisten im Juli 1934 war mit Wissen und Unterstützung der NSDAP in Deutschland vorbereitet und durchgeführt worden. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden ab November 1939 in dem als Stalag VI F bezeichneten Kriegsgefangenenlager Bocholt unter anderem polnische und französische Kriegsgefangene interniert. Im November 1941 trafen dann die ersten 800 sowjetischen Kriegsgefangenen ein, denen später Tausende weitere folgten. Die Kriegsgefangenen des Lagers Bocholt wurden zum Arbeitseinsatz in die nähere Umgebung und ins Ruhrgebiet verbracht. Wie auch in anderen Kriegsgefangenlagern, war die Sterblichkeit sowjetischer Kriegsgefangener im Stalag VI F Bocholt besonders hoch, vor allem 1941/42. Im März 1995 hatte der Kulturausschuss der Stadtverordnetenversammlung Bocholt die Gründung eines Arbeitskreises zur Aufwertung des sowjetischen und jüdischen Friedhofs Bocholt beschlossen. Als Mitglied des Arbeitskreises recherchierte Rolf Thuilot zu Friedhofsplänen und Gräberlisten. Bei den Recherchen zum sowjetischen Friedhof erhielt er von der Stadt Bocholt anfangs nur wenig Unterstützung. Im Laufe seiner Arbeit lernte er den Heimatforscher Otto Schweers kennen, der nach Namen sowjetischer Kriegsgefangener des Stalag VI F Bocholt forschte und ebenfalls Kontakt zur Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten geknüpft hatte.
Im Zusammenhang mit Nachforschungen zur Geschichte des Stalags VI F in Bocholt stieß Otto Schweers 2005 bei seinen Recherchen zu Archiven auf die Adresse der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in Dresden und das Projekt „Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte“. Nach einer ersten schriftlichen Kontaktaufnahme reiste er nach Dresden, um mehr über die humanitäre Aufgabe der Dokumentationsstelle und die Zusammenarbeit mit russischen, ukrainischen und weißrussischen Archiven zu erfahren. Bis dahin hatte Otto Schweers herausgefunden, dass auch etliche tausend Kriegsgefangene der ehemaligen UdSSR im Kriegsgefangenlager Bocholt gewesen waren. Mehrere hundert von ihnen starben im Lager und wurden in Einzel- und Massengräbern auf einem Sonderfriedhof beigesetzt. Vollständige Namenslisten waren nicht auffindbar, lediglich Nummern waren auf den stark verwitterten Grabsteinen der Einzelgräber eingraviert. Bei seinem Besuch in Dresden legte Otto Schweers den Mitarbeitern der Dokumentationsstelle Namenslisten vor, die er vom zuständigen Friedhofsamt in Bocholt erhalten hatte. Dies war der eigentliche Beginn der Zusammenarbeit zwischen Bocholt und Dresden. Bei einem Besuch in Bocholt besichtigte Wolfgang Scheder, Mitarbeiter im Projekt der Dokumentationsstelle Dresden, den Friedhof und nahm eine Kopie des Gräberplans des „Russenfriedhofs“ für die weitere Arbeit mit nach Dresden.
Bis November 2006 war die vorläufige Arbeit für die Schicksalsklärung der sowjetischen Kriegsgefangenen beendet. Es war gelungen 1333 Namen sowjetischer Kriegsgefangener festzustellen. Der Leiter der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dr. Klaus-Dieter Müller, übergab im Rahmen einer Veranstaltung zum Volkstrauertag in Bocholt die Unterlagen mit den Namen der ermittelten Personen an die Landtagspräsidentin Nordrhein-Westfalens, Frau von Dinther. Somit konnte zumindest ein Teil der unbekannten Toten der Anonymität entrissen werden. Durch die Übergabe der Namensliste wurde das Thema auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Bald darauf wurden die betreffenden Friedhöfe in Bocholt, einschließlich des sowjetischen, unter Denkmalschutz gestellt. Die verwitterten Grabsteine wurden gesäubert, das Gestrüpp entfernt und die Gräber somit wieder zugänglich gemacht. Zudem nahm die Stadt Bocholt Kontakt mit der Russischen Botschaft sowie mit dem Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. auf. Doch nicht nur auf dem Bocholter „Russenfriedhof“ finden sich Grabstätten sowjetischer Bürger. Lager mit sowjetischen Kriegsgefangenen gab es im ganzen Gebiet des Deutschen Reiches. Auch in der am Rhein gelegenen Ortschaft Wesel befand sich während des Zweiten Weltkriegs ein sogenanntes Russenlager. Die Kriegsgefangenen arbeiteten für Betriebe in der Umgebung unter anderem für die Mannesmann-Röhrenwerke oder in der Steinmühle der Firma Welsch. Sie waren in einem sogenannten Pionierpark untergebracht. Ein schlichter Gedenkstein auf dem Friedhof an der Caspar-Baur-Straße in Wesel erinnert an im Massengrab beerdigte sowjetische Soldaten.
Im September 2010 ist es Rolf Thuilot gelungen, 94 der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem Friedhof in Wesel zu identifizieren. Auf der Grundlage der Gräberliste und der Datenbank der Dokumentationsstelle konnten den bis dahin 125 unbekannten Toten 94 Namen zugeordnet werden.
Die Friedhöfe in Bocholt und Wesel sind nur zwei beispielhafte Orte von hunderten, wo ehemalige sowjetische Kriegsgefangene ihre letzte Ruhestätte fanden. Viele Grabstätten sind schwer ausfindig zu machen bzw. auf den Friedhöfen nur unzureichend gekennzeichnet. Häufig findet sich die Aufschrift „Unbekannter Soldat“. Im besten Fall sind Einzelgräber mit den Kriegsgefangenennummern versehen, wie beispielsweise auf dem Bocholter Friedhof. Sowjetische Kriegsgefangene fanden bis in die 1990er Jahre in der Bundesrepublik als zweitgrößte Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs wenig bis keine Beachtung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich jedoch das politische Klima in Europa entspannt und die Erforschung der Geschichte der Kriegsgefangenschaft deutscher und sowjetischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg erleichtert.
Links:
Internetauftritt der Stadt Bocholt
Wikipediaeintrag zum Stammlager VI F Bocholt
Artikel - Internetportal DERWESTEN