„Mein Vater Georgij Bowin“, Bericht des jüngsten Sohnes Boris Bowin von 2009 (Übersetzung)
Mein Vater
Mein Vater, Georgij Ivanovitch Bovin, wurde geboren am 3. November 1907 in der Stadt Mytishchi in der der Region Moskau. Seine Eltern: Vater Bovin, Ivan Pawlowitsch starb an Hunger im November 1942. Sein Mutter Barbara Evstigneevna starb an Krebs im Jahr 1952. Die Familie hatte 9 Kinder (7 Jungen und 2 Mädchen):
Michael: im Bürgerkrieg umgekommen
Natalia: lebte bis ins hohe Alter
Paul kämpfte nicht im Krieg und starb an Lungenkrebs im Alter von 67 Jahren
Alexander: vermisst im Jahre 1941
Andrew: kämpfte nicht – starb im Alter von 73 Jahren
Georgij (mein Vater): starb an Erschöpfung am 01.10.1942 im Stalag Zeithain im Alter von 34 Jahren
Claudia: starb im Alter von 82 Jahren
Peter: kam wieder aus der deutschen Gefangenschaft und starb an Magenkrebs im Alter von 37 Jahren
Nikolaus: durchlief den gesamten Krieg und war Kommandeur einer Granatwerferabteilung, kam unversehrt aus dem Krieg und starb im Alter von 75 Jahren an einer Herzkrankheit.
Bovins 9 Kinder hatten wiederum 7 Kinder: 4 Jungen und 3 Mädchen. „Ach, der Krieg, Du Elender, unsere Höfe verkamen“ schrieb der Dichter Bulat Okudzhava.
Mein Vater beendete nicht ganz die Realschule und ging als Jugendlicher in einem Betrieb arbeiten. Vor dem Krieg arbeitete er als Heizungsmonteur in der Schelkower Textilfabrik. Mit 28 Jahren heiratete er Maria W. Krylowa, meine Mutter (sie ist jetzt 95 Jahre alt). Es wurden 2 Kinder geboren: Viktor (1936) und Boris (1938).
Am 23.Juni 1941 ging mein Vater in den Krieg. Er kämpfte an der Kalininer Front, in der 256 Infanteriedivision, im 937. Infanterieregiment, 2. Batallion, 4. Kompanie, 2. Zug, 2. Abteilung. Die Kalininer Front wurde am 17. Oktober 1941 gebildet. Am 10. Oktober begann die Kalininer Operation. Am 11. Oktober nahmen die Deutschen das Dorf Zubtsow, am Abend das Städtchen Pogorelow am 12. Oktober das Dorf Staritsu ein. In der Nacht zum 14.10. bezogen 700 Soldaten der 256. Infanteriedivision in der Nähe der Dörfer Doroshiki und Gorbatow Verteidigung. Das 937. Infanterieregiment nahm Stellung im Stadtpark der Stadt Kalinin. Zum 14. Oktober zogen die Deutschen um Kalinin ca. 20.000 Soldaten einer Stoßgruppierung zusammen. Am 15. 10. gingen unsere Truppen zurück bis zum Bahnhof Kostiantynovka-Peremerok-Kotovo. Das 937. Infanterieregiment bezog die Verteidigung am östlichen Ufer des Flusses Tvertsa. Am Morgen des 15. 10. verließen die sowjetischen Truppen große Teile Kalinins und gingen in die Verteidigung. Am 5. Dezember begann eine Offensive der sowjetischen Truppen in der Nähe von Moskau.
Im November schrieb mein Vater:
5. November 1941 „Guten Tag, Marusja, Vitja und Boris! Ich möchte Euch informieren, dass ich lebe und gesund bin. Von Euch erhielt ich 2 Ansichtskarten. Ich denke, Ihr habt kein Geld und dass es schwierig ist zu leben. Ich weiß, für alle ist es hart, aber an der Front ist auch kein Zuckerschlecken. Es ist notwendig zu überleben, zu kämpfen und den verfluchten Feind zu besiegen. Marusja, kümmere dich um die Jungs. Ich werde zurückkehren, wenn ich es überlebe, aber das ist schwer zu sagen, denn der Krieg ist nicht das, was er früher war. Derzeit bin ich in der Gegend der Stadt Kalinin. Ich küsse die Kinder und Dich Marusja. P.S.: Vitja und Boris, ich möchte euch fragen, wie fühlt Ihr euch zu Hause, wenn Mutti arbeiten fährt? Folgt Ihr Großvater und Großmutter? Wenn Ihr folgt, dann komme ich wieder, wenn der Krieg zu Ende ist. Wenn nicht, bleibe ich hier und Ihr habt keinen Papa mehr. P.P.S.: Ich vermisse die Kinder und Dich sehr. Passt auf eure Gesundheit auf. Ich schicke Euch 250 Rubel. Noch lebe ich. Ich küsse Euch vielmals.“
4. März 1942 „Ich habe Euch lange keinen Brief geschrieben. Viel Zeit haben wir in der Offensive verbracht. Wir stürmten vorwärts, und es war keine Zeit zu schreiben. Seid nicht böse. Ihr schreibt, dass es im Kinderzimmer kalt ist, aber jetzt geht es ja auf den Frühling zu. Irgendwie werden wir diese Zeit überleben. Ich möchte nur am Leben bleiben und wieder nach Hause kommen, dann werden wir mit dir leben. Der Krieg muss bald zu Ende gehen. Wir nehmen den Feind rücksichtslos, ein Dorf nach dem anderen ab. Die Zeit wird bald kommen, den Feind zu besiegen und dann bin ich wieder mit Euch zusammen. Marusja pass auf die Kinder auf, sie sind unsere guten Jungs. Ich vermisse sie sehr . Vitja wird bald 6 Jahre, am 6. März. Und danach Boris 4 Jahre. Ich möchte sie sehr gern sehen. Wenn Du wüsstest wie mir das Herz bricht, aber was soll man tun. Wir müsse es erdulden. Vielleicht sehen wir uns, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht, und niemand kennt sein Schicksal, auch was als nächstes geschehen wird. Ich schrieb dir einmal, mir die Fotos von Vitja und Boris zu senden. Marusja, wenn es möglich ist, schicke sie. Ich bitte dich. Auf Wiedersehen, meine Lieben, Ma-rusja, Vitja und Boris! Ich umarme Euch kräftig. Ich warte auf eure Antwort. Allen Grüße von mir. Ich bin z.Z. gesund und ich wünsche Euch, gesund zu bleiben.
Euer lieber Georgij Bovin.“
Schreiben des Kommandanten der Abteilung vom 14. Juni 1942
„Guten Tag, ich grüße Sie, obwohl ich Sie nicht kenne, Ehefrau vom Soldaten Bovin, Maria Vasilewna. Lassen Sie mich Ihnen Grüße ausrichten. Gewiss ist die Nachricht für Sie nicht erfreulich. Am 5. Juni 1942 nach der Schlacht gegen die faschistischen Räuber war Bovin nicht da. Und dass bis zum heutigen Tage. Wir glauben, dass er im Kampf getötet wurde oder in Gefangenschaft geriet. Das ist meine kurze Nachricht. Mehr kann ich nicht schreiben. Dann Abschied, Maria Vasilewna, mit besten Grüßen, Kommandant der Abteilung der Bovin, Georgij Ivanovitch diente. „
Und keine Nachrichten weiter im Laufe der 66 Jahre (bis 2008) – also nur: „vermisst“
Nach Meinung des Historikers S.A. Gerasimova, war die Rzhevskaya-Vyazemsky Schlacht 1942 (in der Vater beteiligt war) eine der blutigsten Operationen des Großen Vaterländischen Krieges. Offiziell sind in der Schlacht an den West- und Kalinin Fronten 776.889 Menschen verloren. Nach ihrem Abschluss im Frühjahr 1942 begann eine neue Offensive in diesem Bereich der Front. Die westliche Front unterstützte die Truppen der Kalinin Front bei der Vorbereitung der großen Offensive der zwei Fronten, aber die Mai-Juni Offensive der sowjetischen Truppen wurde nicht umgesetzt, weil der Feind zuerst angriff. Im Mai bis Juli 1942 führten die deutschen Truppen im Bereich Rzhevskaya-Vyazemsky eine Reihe von offensiven Operationen durch. Die Frontlinie sah so aus, dass innerhalb eines großen Angriffs, kleinere mit dem Zentrum der Ortschaft Cholm-Zhirkovsky durchgeführt wurden. Dieser innere Angriff band Truppen der Kalinin-Front, besonders die 39. Armee und die 11. Kavalleriekorps. Ein Schritt zur „Säuberung des Hinterlandes“ war die Operation der 9. Feldarmee „Seydlitz“ gegen die Teile der 39. und 11. Kavallerie Korps der Kalinin-Front. Es nahmen nicht weniger als 12 Wehrmachts-Divisionen teil. Innerhalb der 39. Armee, die sich im Osten befand, war die 256. Infanterie-Division, in der mein Vater kämpfte. Zu Beginn der Operation „Seydlitz“ war die Zahl der sowjetischen Truppen 187.690 Menschen. In einer Umkreisung war die 39. Armee und 11. Kavallieriekorps.
Das schreckliche Bild der Umkreisung beschreibt der Verbindungsoffizier des 26. Infanterieregimentes der 17. Garde Infanteriedivision V. Polyakov:
„Eine Wüstenstraße, mit vielen Autos. Den Sanitätern bot sich ein unheimli-cher Anblick. Im ganzen Krieg habe ich nie etwas schrecklicheres gesehen. Den Weg blockierten zerbrochen Wagen. Autos, getötete Pferde, Leichen der Menschen. Aus dem Dickicht des Waldes wurde das stöhnen der Verletzten vernommen. In Erinnerung blieb mir eine Stimme: „Krankenschwester, Krankenpfleger…“ Es war die Stimme eines Sterbenden“
Am 13. Juli 1942 berichtet die Wehrmacht über die Einkreisung und die Zerstörung von mehreren sowjetischen Infanterie- und Kavallerie- Divisionen und einer Panzerbrigade.
Die Gesamtverluste der Truppen an der Kalinin-Front im Juli 1942 waren 4386 getötete Menschen, 8020 Verletzte und 47.072 Vermisste. 1274 Menschen wurden in Krankenhäuser evakuiert. Es gab Verluste von 970 Personen aus anderen Ursachen. Insgesamt 60.722 Menschen. Die meisten Vermissten waren in der 39. Armee, in der auch die 256. Infanterie-Division war. Die Verluste an der Kalinin-Front waren so groß, dass am 13. Juli die 17. Division von der Front in die Etappe zur Wiederauffüllung von Menschen, Ausrüstung und Bewaffnung genommen wurde. Später wurden das 11. Kavalleriekorps und die 18. Kavallerie-Division aufgelöst. Die 39. Armee wurde ebenfalls aufgelöst und bildete die 58. Armee. Die 373., 381., 256., und 252 Infanterie-Divisionen wurden neu strukturiert.
Am erschreckendsten war der Verlust von Zehntausenden von Menschen. Alle von ihnen haben zwar die Tragödie der Kreisung überlebt, aber die Mehrheit kam in Gefangenschaft und in den Tod im Unbekannten. Das Schicksal von einigen ist bekannt, aber das Schicksal von Tausenden ist bis jetzt nicht bekannt. Wegen der Fehler des Oberkommandos mit solchen tragischen Folgen, ist das Schicksal der 39. Armee und des 11. Kavalleriekorps vergessen von militärischen Historikern für viele Jahrzehnte. Und es wurden diejenigen vergessen, die in den Sümpfen von Smolensk und Belsky liegen blieben oder in Gefangenschft starben. (Gerasimova S.A. „Rzhev 42. Schlachthof-Position“ – M.:“Yauza“, „Eksmo“, 2008 – 320p. – „des Großen Vaterländischen Krieges: Preis des Sieges“)
Erst 66 Jahre später, im Mai 2008 fand meine Tochter Inna, die Enkelin von Georgij Ivanovitch Bovin, durch eine Datenbank auf der Website „Memorial“ Informationen über ihren Großvater: Bovin, G. I., geboren 1907, (Lager-Nummer 34120), starb am 1. Oktober 1942 an Erschöpfung in Deutschland, Stalag 304 Zeithain und wurde auf dem Friedhof Jacobsthal, Parzelle 409, Block 1, Reihe 10 beerdigt. Von den etwa 30 Tausend sowjetischen Kriegsgefangenen die in Zeithain gestorben sind war er der 13 Tausendste, oder genauer gesagt der 13.004.. Er war nicht einmal 35 Jahre. Seine Eltern, Brüder und Schwester haben nie sein Schicksal erfahren. Trotz der Anfragen an viele Stellen. In allen Fällen erhielten wir die gleiche Antwort: „Vermisst“.
Ich, sein jüngster Sohn Boris war von 1957 bis 1960 im Militärdienst und danach im Zentral-Archiv des Ministeriums für Verteidigung der Russischen Föderation in Podolsk. Ich arbeitete für den Nachweis über die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg für die Einbeziehung in die Rente. Zu den Unterlagen über Kriegsgefangene hatte ich keinen Zugang. In jener Zeit war es ein verbotenes Thema für wissenschaftliche Studien. Manchmal wurden wir zum schützen der Räumlichkeiten, in denen die Unterlagen gespeichert werden beordert und ich bin mit einer Maschinenpistole um dieses Gebäude gegan-gen.
Bis heute lebt die Ehefrau Krylova, Maria V. (Mädchenname), meine Mutter, geboren im Jahr 1914. Sie wartete auf seine Rückkehr und heiratete nicht wieder. Sie widmete Ihr Leben den Kindern, Enkeln und Urenkeln. Es steht das Haus 10 auf der Naberezshnya Straße g.Mytischi (Gebiet Moskau) von dem mein Vater am 23. Juni 1941in den Krieg zog. Erhalten ist das einzigste Foto des Vaters, aus dem September 1936. (Mein Bruder Viktor auf ihm – 6 Monate alt.) Es gibt noch ein Foto aus dem Jahr 1948. Auf ihm sind wir drei, die den Krieg überlebten und noch immer hoffen, dass der Papa zurück kommt. Übrigens stammt das Foto vom Bruder des Vaters, Nikolai Ivanovitsch, der gerade aus dem Krieg zu uns in das Pionier-Lager kam.
Im August des Jahres 2008 war ich mit meiner Frau Tatiana und unmittelbarer Beteiligung von Jens Nagel auf den Spuren meines Vaters am Bahnhof Jacobsthal, wo die Kriegsgefangenen ankamen und sich ein Konvoi auf dem Weg ins Lager bildete, zu dem Eingang gegangen. Wo noch 3 Stufen sind auf dem Weg zur Hölle. Rund herum das hohe Gras und Sträucher mit leuchtend roten Beeren. Enthusiasten aus verschiedenen Ländern graben aus, entfernten eine 30 cm Schicht, die sich über 60 Jahre gebildet hat. Um das Vergessen der Tötung zu verhindern, den Zickzack der europäischen Zivilisation zu zeigen und auch der nächsten Generation etwas zu lehren
Und der traurigste Augenblick – wir kommen auf dem Friedhof Jacobsthal 2. Im Herzen der rosa Granit-Obelisk mit der Aufschrift: „EHRENDES GEDENKEN DEN OPFERN DES FASCHISMUS“ – Die glorreiche Erinnerung an die Opfer des Faschismus. Links und rechts auf etwa zehn langen Reihen, umrahmt mit einem Steinrand und abgetrennt durch Gras.
Wo ist diese Parzelle 409, Block I, die Reihe 10? Es ist unmöglich, genau den Ort der Bestattung zu ermitteln. Vielleicht irgendwann in der Zukunft. Und wahrscheinlich werden die Reste von meinem Vater nie wieder vereint mit Russland und Moskau, auf dem Babushkinskaya Friedhof mit den Resten seiner Mutter und drei seiner Brüder (Paul, Peter und Nikolas) die ihn nach dem Krieg suchten. Bisher haben wir keine Nachrichten über das Schicksal von seinem ältesten Bruder Alexander, der eines Tages mit seinem Vater an die Front ging, keinen Brief aus dem Krieg schrieb, der verschwand von dieser Erde, ohne eine Spur, als hätte es ihn nie gegeben.
Wir sind dankbar, dem Mitglied der Gedenkstätte Zeithain, Herr Jens Nagel für die aufrichtige Teilnahme und enorme Unterstützung die er uns leistete als wir den Ort besuchten an dem die letzten tragischen Tage meines Vater waren. Wir haben es jetzt mit meinem Bruder Victor und unserer Mutter einfacher und leichter, wir beenden 60 Jahre der Ungewissheit über die Umstände des Todes und die Grabstätte unseres Vaters, Georgij Ivanovitch Bovin.
Wir hoffen, noch einmal die für uns heiligen Orte mit unseren Kindern und Enkelkindern zu besuchen.