Kommunismus: Utopie und Dystopie
14.02.2014
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Mit diesen Worten beginnt das am 21. Februar 1848 erstveröffentlichte Manifest der Kommunistischen Partei, das seit Juni 2013 zum UNESCO Weltdokumentenerbe gehört. Eine kommunistische Machtergreifung steht nicht auf der Agenda, und kommunistische Parteien sind zumindest in Westeuropa politisch bedeutungslos. Aber die Vorstellungen, die vom „Kommunismus“ herumgeistern, sind nicht irrelevant. Der Kommunismus sei grundsätzlich eine gute Idee und nur schlecht umgesetzt bzw. missbraucht worden. Das politische System, das zwischen 1917 und 1991 in Mittel- und Osteuropa bestanden habe, hätte ja mit Kommunismus nichts zu tun gehabt – so lauten gängige Einschätzungen. Manch einer spricht denn auch lieber vom Stalinismus als von einer kommunistischen Gewaltherrschaft, wie man aus ähnlichen Gründen in der DDR von Faschismus sprach und den Begriff Nationalsozialismus mied.
Das politische und wirtschaftliche System, das von der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und von kommunistischen Parteien geprägt war, das die Lehren von Marx, Engels und Lenin zur „wissenschaftlichen Weltanschauung“ und zur Staatsphilosophie erhob – das soll man nicht kommunistisch nennen dürfen? Das ist lächerlich. Die kommunistische Utopie soll nichts mit der Dystopie des realen Kommunismus zu tun gehabt haben? Das ist zu untersuchen. 166 Jahre nach dem Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ soll durch kritische Re-Lektüre etwas Licht in das Dunkel gebracht werden, in dem die Gespenster sich wohlfühlen.
Der Kommunismus des „Kommunistischen Manifests“ ist keine utopische politische Philosophie und keine wissenschaftliche Theorie. Das Manifest – der Titel sagt es schon – ist das Programm einer revolutionären Arbeiterpartei, die öffentlich über ihre Ziele aufklären und Anhänger gewinnen will. Es entfaltet das Gedankengebäude einer politischen Bewegung von Revolutionären, die sich selbst als „Kommunisten“ bezeichnen, weil es ihnen um die Verwandlung des bürgerlichen Privat-Eigentums, das für eine auf Ausbeutung und Klassengegensätzen beruhende Produktionsweise verantwortlich sei, in gemeinschaftliches Eigentum geht.
In seinem ersten Kapitel entwickelt das Manifest die kommunistische Geschichtsphilosophie, nach der alle Geschichte die Geschichte des Kampfes zwischen unterdrückenden und unterdrückten Klassen sei. Wie die Antike durch den Gegensatz von Freien und Sklaven und die feudale Gesellschaft durch den Gegensatz von Feudalherren und Leibeigenen gekennzeichnet sei, so die bürgerliche Gesellschaft durch die zwei großen Klassen Bourgeoisie und Proletariat. Und wie der Klassenkampf zu allen Zeiten letztendlich in eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft und in den Untergang der unterlegenen Klasse mündete, so sei der Untergang der Bourgeoisie und der Sieg des Proletariats „gleich unvermeidlich“ (11). So wie vorzeiten die feudalen (Produktions)Verhältnisse – feudales Eigentum, Zünfte, Leibeigenschaft – zu eng für den sich entwickelnden Weltmarkt und die industrielle Entwicklung (Maschinen, Transportwesen) geworden seien, so hätten sich auch die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse inzwischen als unzureichend erwiesen und in Fesseln verwandelt, die gesprengt werden müssten. Denn die Bourgeoisie sei unfähig, den Arbeitern, die den gesellschaftlichen Reichtum produzierten, die nackte Existenz zu sichern. So, wie die Französische Revolution das feudale Eigentum abgeschafft habe, so müsse und werde die kommunistische Revolution das bürgerliche Eigentum abschaffen, denn es sei „der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Producte, die auf Klassengegensätzen, die auf der Ausbeutung der Einen durch die Andern beruht. In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privat-Eigenthums zusammenfassen.“ (11)
Dies sind die zentralen Aussagen. Wie aber konnte der Kommunismus des Manifests und der späteren Schriften von Marx und Engels zum ideologischen Fundament einer totalitären Ordnung im 20. Jahrhundert werden? Schon im Manifest wähnen sich die Kommunisten in Übereinstimmung mit den Gesetzen historischer Entwicklung, finden wir die Selbstgewissheit und den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit. Ihre Ideen grenzen sie von Prinzipien ab, „die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke thatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“ (11), in deren Gang, Bedingungen allgemeinen Resultate die Kommunisten „Einsicht“ hätten. Religiöse, politische oder philosophische Kritik an ihrer Weltanschauung verdiene „keine ausführlichere Erörterung“ (15), denn Recht und Gesetz, Vorstellungen von Moral und Erziehung, Familie und Religion – all dies seien nur die Ideen der herrschenden Klasse, hinter all dem würden sich nur die Interessen der Bourgeoisie verstecken. Alternative sozialistische und kommunistische Strömungen werden im III. Teil des Manifests als naive Träumer und Phantasten oder als reaktionär geschmäht, als unfähig, den Gang der Geschichte zu begreifen, obgleich einige von ihnen heute als weitsichtiger erscheinen als Marx und Engels.
Der Untergang der Bourgeoisie und der Sieg des Proletariats als herrschender Klasse sowie der Übergang in die kommunistische Gesellschaft vollziehe sich, so das Manifest weiter, revolutionär. Radikal mit den bestehenden Eigentumsverhältnissen zu brechen, das gehe nur durch gewaltsame und despotische Eingriffe, darüber lässt das Manifest niemanden im Unklaren. Die proletarische Herrschaft erfordere, dass die bisherige Gesellschaft „in die Luft gesprengt wird“ (10). Bevor an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mir ihren Klassen und Klassen-Gegensätzen eine Assoziation tritt, „worin die freie Entwicklung eines Jeden, die Bedingungen für die freie Entwicklung Aller ist“ (16) – so die immer wieder zitierte positive Utopie –, bevor also alle Klassenunterschiede verschwinden, müsse das Proletariat der Bourgeoisie gewaltsam Kapital und Eigentum „entreißen“ und „alle Produktions-Instrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats centralisieren“ (15) – so der Teil, der meistens vergessen wird. Die Kommunisten erklären es im Manifest offen, „daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“ (23). Zu den despotischen Maßregeln, „die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaus treiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich“ seien, gehören nicht nur Enteignung und Konfiskation, Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates „durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol“ (sic!), sondern auch die Vermehrung von Staatsfabriken und Produktions-Instrumenten sowie Urbarmachung „nach einem gemeinschaftlichen Plan“ sowie „Gleicher Arbeitszwang für Alle, Errichtung industrieller Armeen besonders für den Ackerbau“. (16)
Ist es abwegig, bei diesen politischen Maßnahmen an staatliche Planwirtschaft zu denken? Sind die Autoren des Manifests nicht vielleicht sogar Wegbereiter oder Vordenker der stalinistischen Kollektivierung der Landwirtschaft, in deren Folge Millionen Menschen, vor allem in der Ukraine, verhungerten? Waren doch Bauern, so wie die „Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker“ zum Untergang, zum „Hinabfallen“ ins Proletariat (8) bestimmt, und deswegen bei ihrem Kampf gegen die Bourgeoisie „reaktionär, denn sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen“ (9). Im Kommunistischen Manifest gibt es keine Menschen, keine Individuen und keine Freiheit, sondern nur „Klassen“, die gemäß der geschichtlichen Entwicklung siegen oder untergehen.
Zu den frühesten Kritikern dieser „kollektivistischen Theorie historischer Unvermeidbarkeit“ [Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Bd. 2, Göttingen 2013, S. 365.] gehörte der französische Politiker und Schriftsteller Alexis de Tocqueville, der in seinen Erinnerungen schrieb: „Ich für mein Teil verurteile diese absoluten Systeme, die den gesamten Gang der Geschichte von großen, schicksalhaft miteinander verketteten Grundursachen abhängig machen und die Menschen mehr oder weniger aus der Geschichte des Menschengeschlechts streichen.“ [Alexis de Tocqueville, Erinnerungen, Stuttgart 1954, S. 108.] Und auch an düsteren Vorahnungen in Bezug auf die Realisierung der kommunistischen Utopie hat es schon damals nicht gefehlt. So schrieb Friedrich Hebbel 1848 in sein Tagebuch: „Der Kommunismus kann momentan siegen, das heißt, er kann sich so lange behaupten, bis er alle seine Schrecknisse entfaltet und die Menschheit mit einem für alle Zeiten ausreichenden Abscheu getränkt hat.“ [Tagebücher, Stuttgart 1963, S. 279.] Der russische Anarchist Michail Bakunin sah 1873 in seiner Schrift „Staatlichkeit und Anarchie“ die dystopische Gesellschaftsordnung, die in der Konzeption des Manifests keimte, voraus. Diese werde nichts anderes sein, „als die sehr despotische Lenkung der Volksmassen durch (eine) neue und sehr wenig zahlreiche Aristokratie wirklicher und angeblicher Gelehrten. Das Volk ist nicht wissenschaftlich, das bedeutet, es wird ganz und gar befreit werden von der Sorge um die Regierung, es wird ganz und gar eingeschlossen werden im regierten Stall. (...) Da die Wissenschaft (Widerschein der „Einsicht“, die allein die Kommunisten haben – B. P.) nicht allen zugänglich ist, werden die Wenigen alles leiten (so) daß am andern Tag der Revolution (eine) neue gesellschaftliche Organisation gegründet werden muß nicht durch freie Vereinigung volkstümlicher Organisationen, Gemeinden, Amtsbezirke, Gebiete von unten nach oben (...), sondern durch die diktatorische Gewalt jener gelehrten Minorität." [zitiert nach Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Berlin 1990, S. 47.]
Wer in den kommunistischen Ideen des 19. Jahrhunderts Lenin, Stalin, Mao und Pol-Pot vorausahnte, war prophetisch. Wer diese Ideen nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts noch immer verteidigt, der ist entweder geschichtsvergessen oder apologetisch.
Dr. Bert Pampel
bert.pampel@stsg.smwk.sachsen.de
Online-Ausgabe, der der Text der letzten von Friedrich Engels besorgten deutschen Ausgabe von 1890 zugrunde liegt. In den Fußnoten werden die verschiedenen Lesarten der deutschen Ausgabe von 1848, 1872 und 1883 vermerkt, soweit sie den Inhalt berühren.
http://www.dearchiv.de/php/dok.php?archiv=mew&brett=MEW004&fn=459-493.4&...