Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens?
20.01.2014
Auf der Behauptung, dass man aus der Geschichte für Gegenwart und Zukunft lernen könne bzw. auf der Forderung, dass man es tun müsse, beruht ein Großteil der Legitimation von Gedenkstätten. Ohne diese Idee ließen sich über Markierung der historischen Orte, memoriale Gestaltung und Grabpflege hinausgehende Aktivitäten kaum rechtfertigen. Eine neuzeitliche Anschauung ist es nicht, schon die Antike kannte den Gedanken der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens, historia magistra vitae. Aber sind nicht Zweifel angebracht? Handelt es sich nicht um eine bloße Hoffnung oder gar Illusion?
Es verhält sich wie so oft bei scheinbaren Selbstverständlichkeiten: Je mehr man in der Tiefe nach Antworten sucht, desto mehr Fragen ergeben sich. Bezieht sich diese Idee auf einzelne Menschen, die aus ihren Fehlern lernen sollen, oder auf Kollektive, oder auf beides gleichermaßen? Und wenn das eine gilt, kann man dann hiervon auf das andere schließen? Welche geschichtlichen Zeiträume sind als "Lehrmaterial" zu betrachten – Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende? Ist es theoretisch überhaupt möglich, wenn davon auszugehen ist, dass Geschichtsschreibung immer selektiv ist, also nie die wirkliche Vergangenheit vollständig gelehrt wird? Wie verhält es sich empirisch? – Gibt es gesichertes Wissen darüber, dass Menschen oder Gesellschaften Lehren aus der Vergangenheit ziehen?
Im Weisheitsbuch Kohelet (Prediger 1/9) findet sich der Spruch: „Was (einmal) geschah, das wird (wieder) geschehen, und was (einmal) getan wurde, das wird (wieder) getan werden. Und es gibt nichts völlig Neues unter der Sonne.“ Er umfasst mithin beides: Zum einen die Vorstellung (oder Einsicht) von einer im Großen und Ganzen regelmäßigen, sich fortdauernd wiederholenden geschichtlichen Entwicklung, die man erkennen können müsste. Zum anderen lässt sich auch ein gewisser Fatalismus in Bezug auf die Hoffnung herauslesen, dem Rad der Geschichte „in die Speichen greifen“ zu können. Auch der große liberale Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville blieb hinsichtlich des Lernens aus der Geschichte skeptisch: „So sehr trifft es zu, dass, wenn auch die Menschheit immer die gleiche bleibt, jeder geschichtliche Vorgang verschieden ist, die Vergangenheit nicht viel über die Gegenwart lehrt und die alten Bilder, die man in neue Rahmen zwingen will, immer schlecht wirken.“ (Erinnerungen, Stuttgart 1954, S. 77f)
So können wir beim Blick zurück einerseits durchaus gewisse Regelmäßigkeiten erkennen, ohne von historischen Gesetzmäßigkeiten sprechen zu müssen: große soziale Unterschiede führen zu gesellschaftlichen Spannungen, Menschen lassen sich verführen, gesellschaftliche Umbrüche bewirken Ängste und Instabilität. Die Erfahrung wiederkehrender menschengemachter Katastrophen scheint das Mahatma Gandhi zugeschriebene Bonmot zu bestätigen, die Geschichte lehre die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehre. Und zwar deshalb, weil jede Situation historisch einzigartig ist. Selbst ähnliche geschichtliche Phänomene, z. B. Revolutionen oder Wirtschaftskrisen gründen in unterschiedlichen wie gleichen Faktoren.
Geschichte wiederholt sich nicht auf ein- und dieselbe Weise. Wir leben (nicht) in einem Überwachungsstaat, der die Freiheit unterdrückt, aber wir leben in einem „digitalen Panoptikum“ (Byung-Chul Han im SPIEGEL 2/2014). Fast 25 Jahre nach dem Ende des DDR-Staatssicherheitsdienstes, also innerhalb einer Generation, scheint vergessen worden zu sein, wie der Staat sein Wissen über die Privatsphäre unliebsamer Bürger zur Manipulation und Zersetzung nutzen kann. Wir leben nicht in einer Planwirtschaft, aber staatliche Notenbanken weltweit manipulieren die Marktzinsen, indem sie aus dem Nichts Geld drucken, für das es kein entsprechendes Leistungs- und Güterangebot gibt.
Das kann man nicht vergleichen, wir leben doch in einer freiheitlichen Demokratie? Ja, aber wird das für immer so bleiben? Ist nicht auch die Einsicht verloren gegangen, dass alles Menschengemachte unsicher und vergänglich ist, dass sich Gutes zum Schlechten verändern kann, dass Reiche, Staaten, Gesellschaften zerfallen und zusammenbrechen können? "So werdet ihr sehen, dass in bestimmten Abständen eben alles verloren geht, danach aber alles wiedergewonnen wird. Seid also nur gefasst, denn alle Dinge haben ihre Zeit, schlechte wie gute, Glück wie Unglück, Gewinn wie Verlust, Elend wie Triumph, fette wie magere Jahre." (Baltasar Gracian, Das Kritikon, Zürich 2001, S. 867.)
Ist dies nicht eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte?
Dr. Bert Pampel
bert.pampel@stsg.smwk.sachsen.de