Vor 120 Jahren: Der Maurer Otto Bercht versteckt eine Flaschenpost beim Bau der Haftanstalt am Münchner Platz
21.05.24
Als der Maurer Johann Eibeck im Januar 1960 beim Umbau des früheren Gefängnisses, das der Technischen Hochschule zur Nutzung übergeben worden ist, die Wände mit einem Stemmeisen begradigen will, traut er seinen Augen nicht: Eine Bügelflasche mit einem beschriebenen Zettel ist zwischen den Steinen verborgen.
Schnell stellt sich heraus, dass der Pirnaer Bauarbeiter Otto Bercht die Botschaft am Pfingstsamstag, dem 22. Mai 1904, beim Bau des Ostflügels eingemauert hatte. Dieser Flügel wird später für weibliche Gefangene genutzt. 85 Maurer, 20 Zimmerer und 40 Arbeiter waren zu dieser Zeit am Bau beschäftigt. Jeder der vier Poliere wollte mit seinem Gefängnisflügel zuerst fertig sein und trieb seine Bauleute entsprechend an. Otto Bercht bat auf dem Zettel darum, die Botschaft nach dem Auffinden der Maurergewerkschaft zu übergeben.
Nachdem noch im Februar 1960 ein Fototermin der Flaschenpostfinder mit dem DDR-Bauminister zustande kam, verschwand die Flasche erstmal aus dem Blickfeld. Erst 1976 tauchte sie wieder auf, als ein Team des DEFA-Studios für Dokumentarfilme das Thema für sich entdeckte. Unter dem Regisseur Günther Meyer, bekannt für seine Kinderserien „Spuk unterm Riesenrad“ und „Spuk im Hochhaus“, entstand ein Kinder-Dokumentarfilm unter dem Titel „Vermutungen über eine Flaschenpost“. Seinen Titel erhielt der Streifen, weil er in drei Spielszenen verschiedene Vermutungen visualisierte, wie Otto Bercht auf die Idee zur Flaschenpost kam und wie er diese umsetzte. Diese Szenen schrieb der bekannte Schriftsteller Christoph Hein.
Der Film-Spiegel 11/1976 schrieb begeistert: „Der Film versteht es – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene -, interessant eine Geschichte über ein Stück Geschichte zu erzählen. […] Das Filmteam tritt aus der gewohnten Anonymität hervor, übernimmt, für den Zuschauer sichtbar, die Rolle des Forschers, Interviewers, Entdeckers – zeigt so ein Stück Film-Arbeitswirklichkeit. Geschichtsbewußtsein wird unaufdringlich gefördert. Spannend vermittelt der Film Geschichtswissen, lässt überdies Platz für die Phantasie jedes einzelnen, hebt Freude am Entdecken, weckt Drang nach Wissen.“
Eine Glasflasche mit einem Zettel bekam mit Eröffnung des „Museums des antifaschistischen Widerstandskampfes“ Ende November 1986 einen prominenten Platz. Sie sollte in den Augen der Ausstellungsgestalter belegen, dass der Bau der Haftanstalt am Münchner Platz ein Zeichen für die massive „Verschärfung der Klassengegensätze“ war.
Diese interessengeleitete Deutung der Geschichte war falsch, die Rechte der Angeklagten wurden in den Jahren vor 1919 und vor 1933 eher gewahrt als in den Jahren nach 1933 und nach 1945. Auch die ausgestellte Flaschenpost war nicht echt. Während die echte Flaschenpost im Depot des Stadtmuseums Dresden schlummerte, stand eine DDR-Bierflasche mit Bügelverschluss und einem maschinegeschriebenen Zettel in der Ausstellungsvitrine.
Kontakt:
Dr. Gerald Hacke (Wissenschaftliche Dokumentation und Ausstellungsbetreuung)
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