Birgit Sack zu neuem Webportal: „Meine Antwort heißt Transparenz“
06.12.24
Seit Kurzem ist ein neues Webportal zu Opfern von Gewalt und Krieg auf Dresdner Friedhöfen online: www.dresdner-friedhoefe.de. Geschaffen hat es Dr. Birgit Sack, die Leiterin der Gedenkstätte Münchner Platz Dresden. Im Interview spricht sie darüber, was sie im Zuge ihrer Recherchen herausgefunden hat und warum es sich lohnt, hinter den Begriff der „Opfer“ zu blicken und einzelne Personengruppen genauer in den Blick zu nehmen.
Warum haben Sie begonnen, sich mit Opfern von Gewalt und Krieg auf Dresdner Friedhöfen zu beschäftigen?
Birgit Sack: Es hat damit angefangen, dass ich vor acht Jahren von Angehörigen tschechischer Hinrichtungsopfer nach den Gräbern gefragt worden bin. Wir sind damals mit einer Gruppe auf den evangelischen Johannisfriedhof in Dresden-Tolkewitz gefahren. Dort und auf dem Neuen Katholischen Friedhof liegen die meisten Menschen, die während des Nationalsozialismus am Münchner Platz in Dresden hingerichtet wurden. Da habe ich schnell festgestellt, dass es gar nicht so einfach herauszufinden ist: Gibt es überhaupt ein Grab? Zumal die meisten Gräber auch nicht sichtbar sind. Daraufhin habe ich angefangen, in den Bestattungsunterlagen der Friedhöfe zu recherchieren.
Was haben die Recherchen ergeben?
Birgit Sack: Zunächst habe ich festgestellt, dass in den Gräbern bzw. Grabfeldern nicht nur Justizgefangene lagen. Die Gräber wurden häufig mehrfach belegt. So stieß ich zum Beispiel auch auf KZ-Häftlinge und zivile Zwangsarbeiter:innen. Das hat meine Neugierde als Forscherin geweckt. Weil die Angaben in den Friedhofsbüchern häufig sehr dürftig sind, musste ich auch andere Quellen suchen und auswerten, um die Identitäten der Personen zu klären. Das hat sehr viel Zeit gekostet. Damals hat eine Mitarbeiterin des Grünflächenamtes gemeint, dass es doch schön wäre, wenn ich alle in den Blick nehme, die auf den Listen als anerkannte Opfer von Krieg und Gewalt geführt werden. Also etwa auch Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die ich damals gar nicht auf dem Schirm hatte. Auch weil an verschiedene Gruppen gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“ erinnert wurde, habe ich entschieden: Ich widme mich allen.
Was ist eigentlich unter „Opfern von Gewalt und Krieg“ zu verstehen?
Birgit Sack: Der Begriff stammt aus dem sogenannten Gräbergesetz, das aus der alten Bundesrepublik nach 1989/90 auf Ostdeutschland übertragen wurde. Für diese gilt ein unbegrenztes Ruherecht. Gemeint sind einerseits Opfer staatlicher Gewalt – aus der nationalsozialistischen Diktatur und der kommunistischen Diktatur nach 1945. Andererseits auch Opfer der Kriege, insbesondere Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs, aber auch zivile Opfer etwa von Luftangriffen. Zu dieser Gruppe gehören auch Angehörige sogenannter polizeiähnlicher Dienste, wozu auch Angehörige der Waffen-SS gezählt werden. Es gab immer wieder Debatten bis in den Deutschen Bundestag, ob der Schutzstatus des Gräbergesetzes auch für Personen aufrechterhalten soll, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren.
Das heißt, unter diesen Opfern können auch Täter sein?
Birgit Sack: Absolut. Auch ein nationalsozialistischer Täter, der unter den Bombenangriffen gestorben ist, ist in dem Sinne ein Opfer. Aber natürlich stellt sich immer die Frage, wen man in welchem Sinne als Opfer bezeichnen will. Und deshalb heißt meine Antwort Transparenz. Das heißt, die zum Webportal gehörige Datenbank erfasst alle bestatteten Opfer von Gewalt und Krieg. Gleichzeitig wird offengelegt, wenn bekannt ist, dass darunter Gräber von Personen sind, die selber Gewaltverbrechen begangen haben. Mein Ausgangspunkt sind erst einmal alle nach dem Gräbergesetz anerkannten Opfer. Ich filtere da nicht einzelne Personen raus, sondern mache es zum Thema, wenn ich auf Personen stoße, die auch als Täter oder Täterinnen gelten müssen. Ich finde es wichtig, auch solche Biografien darzustellen. Dies gilt gerade in Hinblick auf den Umgang hier in Dresden, wo bislang die Maxime gilt: lieber gar keine Namen nennen – etwa, wenn es um die Opfer des Februar 1945 geht –, denn es könnten ja Täter dabei sein. Das kann meines Erachtens nicht die Lösung sein.
Für wen ist das Portal gedacht?
Birgit Sack: Das Portal ist ja mit einer Personen-Datenbank verknüpft. Ich möchte gerne, dass Angehörige erfahren können, ob es ein Grab in Dresden gibt und auf welchem Friedhof das ist. Sie können sich dann für nähere Auskünfte an uns wenden, denn genaue Grablagen heben wir bewusst nicht an. Das Portal möchte auch – bezogen auf Dresden – Kontextwissen vermitteln über einzelne Opfergruppen. Zum Beispiel in Bezug auf die Zwangsarbeiter:innen: Wo waren sie untergebracht? Wie waren die Arbeits- und Lebensbedingungen?
Das Webportal widmet sich als erstem Friedhof dem Neuen Katholischen Friedhof. Um wie viele Opfer von Krieg und Gewalt geht es da?
Birgit Sack: Wir sprechen von etwa 1200 Gräbern auf dem Neuen Katholischen Friedhof in Dresden-Friedrichstadt. Davon sind aber nur noch ganz wenige erhalten. Das liegt einerseits daran, dass man für die größte Opfergruppe, die sogenannten Opfer nationalsozialistischer Gewalt – das waren vor allem Hinrichtungsopfer, aber auch Zwangsarbeiter:innen – schon 1946 im Grabfeld N, in dem die meisten von ihnen bestattet worden waren, eine Gedenkanlage errichtet und darum herum eine planierte Rasenfläche geschaffen hat. Andererseits wurden andere Opfergruppen gar nicht als solche gesehen. Zum Beispiel wurden bei den Vertriebenen nach Ablauf der Ruhefrist, bei zivilen Zwangsarbeiter:innen teils schon vor Ablauf der Ruhefrist, die Gräber neu vergeben bzw. nur erhalten, wenn Angehörige das Grab weiter pflegen wollten.
Welche Geschichten erzählen die Gedenkanlagen und Denkmäler auf den Friedhöfen?
Birgit Sack: Denkmäler sind immer Kinder ihrer Zeit – und sie spiegeln das Wissen und Nicht-Wissen wider über die Personengruppen, derer gedacht werden soll. Das schon erwähnte Denkmal auf dem Neuen Katholischen Friedhof von 1946 ist zum Beispiel „537 Opfern des Faschismus aus Europa und den USA zwischen 1935 und 1945“ gewidmet. Das wirft aus heutiger Sicht viele Fragen auf: Wer sollen die Personen aus den USA sein? Woher kommt die Jahreszahl 1935 her? Wie kommt die Gesamtzahl der Opfer zustande? In diesem Fall hat man vermutlich alle vermeintlichen oder tatsächlichen Opfer aus der NS-Zeit, die auf dem ganzen Friedhof liegen, in diese Zahl hineingepackt. Typisch für die frühe Nachkriegszeit ist auch, dass die sowjetischen Toten eigens hervorgehoben werden: Drei Jahre später entstanden daneben auf Weisung der sowjetischen Besatzungsmacht zwei Gedenksteine für die sowjetischen Opfer, obwohl diese ja schon in der anderen Zahl enthalten sind.
Was hat Sie bei Ihren Recherchen besonders überrascht?
Birgit Sack: Auf dem Neuen Katholischen Friedhof bin ich auf das Grabfeld K gestoßen, das als „Bombenopfergrabfeld“ bezeichnet wird. Seit 1992 erinnert dort eine Gedenkplatte vor einem Denkmal an „267 Opfer der Bombenangriffe auf Dresden“. Abgesehen von einer kleinen Gruppe französischer Zwangsarbeiter, die bei den Bombenangriffen umkamen, liegen da allerdings nur Vertriebene. Man hat einfach die Vertriebenen zu Bombenopfern deklariert. Was die französischen Zwangsarbeiter:innen angeht: Im allgemeinen Umgang mit dem „13. Februar“ in Dresden werden bei den Angriffen getötete Zwangsarbeiter:innen gerne eingemeindet. Das sind dann vor allem Opfer der Bombenangriffe. Da ist es mir wichtig zu sagen: Das sind in erster Linie Menschen, die gezwungen wurden außerhalb ihrer Heimat Zwangsarbeit zu leisten – und dann den Bombenangriffen zum Opfer fielen.
Inwiefern ist das Portal ein Beitrag zur Erinnerungskultur der Stadt Dresden?
Wir gehen der Frage nach, wie man in verschiedenen Perioden mit verschiedenen Opfergruppen umgeht. Auf dem Neuen Katholischen Friedhof wurde beispielsweise schon in der Zeit des Nationalsozialismus eine Art Heldenfriedhof für „gefallene“ Soldaten geschaffen, wobei diese nicht bei Kämpfen, sondern in Lazaretten, überwiegend im Dresdner Raum, verstorben waren. Dieser „Heldenfriedhof“ wurde dann nach 1945 vollständig vergessen, weil dieses Gedenken eben nicht weitergepflegt wurde. Jetzt rückten die sogenannten Opfer des Faschismus ins Zentrum des Gedenkens. Insofern sagt die Denkmalsetzung auf dem Friedhof immer etwas aus über den Umgang der jeweiligen Zeit mit verschiedenen Personengruppen: Welche Rolle spielen sie? Gelten sie als erinnerungswürdig oder eben nicht? Oder ist man indifferent?
Was hat Sie bei Ihrer Arbeit an dem Webportal besonders bewegt?
Besonders bewegt haben mich die auf dem Neuen Katholischen Friedhof bestatteten rund siebzig Säuglinge und Kinder. Drei Viertel von ihnen stammen von Zwangsarbeiterinnen, die diese entweder mit nach Dresden gebracht haben oder die hier auf die Welt gekommen sind. Viele wurden nur wenige Tage alt. Die in den Friedhofsbüchern festgehaltenen Todesursachen wie „Lebensschwäche“ oder „Ernährungsstörung“ lassen erahnen, wie eingeschränkt die Überlebenschancen der Kinder von Anfang an waren. Die polnische Zwangsarbeiterin Anastazja Wochnik starb bei der Entbindung. Sie liegt mit ihrer Tochter Anna, die nur sieben Stunden alt wurde, in einem Grab auf dem Neuen Katholischen Friedhof.
Die Fragen stellte Volker Strähle.
Kontakt
Dr. Birgit Sack (Gedenkstättenleiterin)
Tel. 0351 4633 6466
birgit.sack@stsg.d