Willy Lesser (1901–1972)
Der Kaufmann Willy Lesser gehörte zu den führenden Vertretern der Genossenschaftsbewegung in Sachsen. Aufgrund seines politischen Engagements verlor er in der NS-Zeit nicht nur seine Anstellung im Allgemeinen Konsumverein für Chemnitz, sondern wurde auch im Konzentrationslager Sachsenburg in „Schutzhaft“ genommen.
Willy Lesser erblickte am 11. September 1901 als Sohn des Kunsttischlers Adolf Lesser (1871–1957) in Kassel das Licht der Welt. Frederike Lesser (†1946), seine Mutter, hatte insgesamt vier Kindern das Leben geschenkt. Die Familie lebte in der Kasseler Innenstadt (Albrechtstraße 15). Adolf Lesser hatte sich frühzeitig für die Ziele der Arbeiterbewegung eingesetzt. Anfangs wirkte er aufgrund des Sozialistengesetzes (1878–1890) in der Illegalität. Zu seinen späteren Aufgabengebieten gehörten die Gewerkschafts- und die Genossenschaftsbewegung. So war er Mitgründer des Kasseler Konsumvereins. Daher schrieb sein Sohn Willy später, er sei „von Jugend an mit den Ideen der Arbeiterbewegung vertraut“ gewesen.
Willy besuchte von 1908 bis 1916 die Volksschule in Kassel. Nach dem Schulabschluss absolvierte er eine kaufmännische Lehre in der Kasseler Handelsschule. In dieser Zeit wurde er Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Als Jungsozialist trat er in der Folgezeit in die SPD ein, wobei er sich eher dem konservativen Parteiflügel zugehörig fühlte. Nachdem er zunächst dem Verband Deutscher Handlungsgehilfen angehörte, wurde er Mitglied des Zentralverbandes der Angestellten (Z.d.A).
Am 31. Dezember 1921 trat Willy Lesser als kaufmännischer Angestellter in die Konsum- und Sparverein Kassel und Umgebung eGmbH ein. Bereits drei Tage später besuchte er den 5. Kurs, einen der ersten Männerkurse, an der Heimvolkshochschule Dreißigacker bei Meiningen. Die im Jahr 1920 von dem aus Dresden stammenden Erwachsenenbildner Friedrich Hugo Eduard Weitsch (1883–1965) gegründete Heimvolkshochschule Dreißigacker richtete sich mit ihrem Bildungsangebot an städtische junge Arbeiter und Angestellte. In der Regel wurden aktuelle politische, wirtschaftliche und kulturelle Fragen behandelt. Einen großen Raum nahm Geschichte, vor allem Heimatgeschichte, ein. In einer späteren Veröffentlichung, die das Adressenverzeichnis der Schüler und Freunde der Volkshochschulheime Dreißigacker und Sachsenburg enthielt, wurde bereits Lessers Wohnanschrift in Chemnitz angegeben. Der Kurs dauerte 20 Wochen. Wieso er später angab, dass der Kurs bis zum 7. Januar 1923 dauerte, könnte damit zusammenhängen, dass sich seine ältere Schwester Frida (1898–1989) für den 6. Kurs angemeldet hatte. Vielleicht blieb Willy Lesser aber auch in Dreißigacker, um beim weiteren Ausbau des Heimes zu helfen. Andererseits gab er an, dass er in dieser Zeit für den Konsumverein „Eintracht“ in Essen/Ruhr tätig war. Am 8. Januar 1923 kehrte er in die Region zurück, um Buchhalter in der Konsumverein Meiningen GmbH zu werden.
Lesser interessierte sich in dieser Zeit aber nicht nur für Politik und Kultur, sondern auch für die Natur. So gab er später an, dass er sich zu den Zielen der Naturfreunde bekannte. Ob er Mitglied des 1895 gegründeten „Verbandes für Umweltschutz, sanften Tourismus, Sport und Kultur“ war, kann nur vermutet werden. Vielleicht hatte die Idylle der Gemeinde Dreißigacker mit ihrem Schloss und der Dorflinde Einfluss auf sein Verhältnis zur Natur? Auf alle Fälle liebte er es, mit Gleichgesinnten „das große Erleben in der Natur und Lagern“ zu suchen.
Zur Erweiterung seiner politischen und wirtschaftlichen Bildung besuchte Willy Lesser von Ostern 1925 bis Ostern 1927 die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin. Vielleicht war er in Dreißigacker dazu angeregt worden. Das sozialpolitische Seminar bot ihm Kurse in Staats- und Verwaltungsrecht, Arbeitsrecht, Sozialpolitik, Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte an. Mit Erfolg bestand er die Abschlussprüfung, die ihm ermöglichte, sich um eine Anstellung bei der Allgemeinen Konsumverein Chemnitz und Umgebung eGmbH zu bewerben.
Am 16. Mai 1927 wurde Lesser Sekretär des mitgliederstarken Allgemeinen Konsumvereins in Chemnitz. Die Verwaltung hatte ihren Sitz auf dem Gelände Kauffahrtei 25. Standesgemäß bezog er eine Wohnung auf dem Kaßberg. In dem Haus Andréstraße 56 fand er für sich eine angemessene Wohnung. Zu seinen Nachbarn gehörten Rechtsanwälte, Bankbeamte, Kaufleute und Unternehmer.
Außerdem engagierte sich Lesser nunmehr verstärkt für die Ziele der Arbeiterbewegung. Besonders auf dem wirtschaftspolitischen Sektor unterstützte er die Arbeit der Chemnitzer SPD. Wann sein Eintritt in das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold erfolgte, ist nicht belegt. Damit gehörte er zugleich dem 1931 gegründeten Kampfbündnis der Eisernen Front an. Wegen der Beteiligung an einer Saalschlacht in der benachbarten Stadt Zschopau wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Landfriedensbruchs eingeleitet. Später nahm er noch an einer weiteren Saalschlacht im Gasthof von Richard Zinn in Schönau teil. Damit verbunden war auch ein publizistischer Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Ab dem Jahr 1929 wies er sowohl schriftstellerisch als auch in Vorträgen auf die Gefahren hin. So trat er wiederholt bei Versammlungen des Reichsbanners in Chemnitz und im Erzgebirge als Redner auf. Beispielsweise hielt er im März 1931 auf einer öffentlichen Veranstaltung, die anlässlich der Bundesgründungsfeier in Jöhstadt stattfand, ein Referat, in dem er sich „Gegen die Nazipest, für die soziale Republik“ aussprach.
Willy Lesser fand damals auch die Frau, mit der er am 13. April 1933 in Chemnitz den Bund fürs Leben schloss. Es war die um vier Jahre jüngere Lina Hildegard Meinig, die seine Sekretärin und Assistentin war. Die Eheleute hatten drei Kinder: Adolf Peter (1933–2019), Friedricke Uta (1938–2018) und Gottfried Heiner (1939–1991).
Aufgrund seines politischen Engagements geriet Lesser frühzeitig ins Visier der Chemnitzer Nationalsozialisten, die seit den Wahlen vom 5. März 1933 das Rathaus beherrschten und Lessers fristlose Entlassung forderten. Die Kündigung wurde in eine Beurlaubung umgewandelt, bevor am 9. Dezember 1933 sein Arbeitsverhältnis beim Konsumverein in Chemnitz endete. Am 11. Dezember 1933 wurde er als Geschäftsführer zur Konsum- und Sparverein „Zwönitzthal“ eGmbH in Meinersdorf (Erzgebirge) beordert, was er als „Strafversetzung“ ansah. Dies bedeutete aber nicht, dass er mit der illegalen Tätigkeit zur Weiterführung der SPD aufhörte. So nahm er, wie der Weggefährte Erich Mückenberger (1910–1998), der seit 1927 Mitglied der SPD war, am 30. März 1947 berichtete, „wiederholt an Besprechungen sowie an der Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Emigranten aus der Tschechoslowakei teil. Seine Verbindung ging bis nach Karlsbad und andererseits bis in die Leipziger Gegend zu der Gruppe um Bruchardt und Göhler.“ Fritz Neubert, der nach 1945 für die Industrie- und Handelskammer in Marienberg (Erzgebirge) tätig war, erklärte dies näher: „Gegenseitige Besuche und Aussprachen sowie die Erörterungen von Grenzübergängen der in der Nähe von Olbernhau befindlichen Grenze wurden zur Sicherung des Übergangs von Emigranten durchgeführt.“ Aufgrund dieser Tätigkeit wurde Lesser am 30. Juni 1934 unter Forderung der Kreisleitung der NSDAP fristlos auch aus dem Konsumverein im Erzgebirge entlassen. Bei einem Arbeitsgerichtsverfahren traten die NSDAP-Kreisleiter Ernst Mutz und Hans Schöne als Zeugen auf.
Willy Lesser erlebte in dieser Zeit aus der erzgebirgischen Ferne auch den zunehmenden Judenhass. Als seine Schwägerin Magdalene am 14. Juni 1934 in Chemnitz heiratete, wurde bei der Feier im Ratskeller unverblümt gegen die Juden gehetzt. „Hinter den größten Schweinereien steckt immer ein Einzelner – ein Anstifter, ein Rädelsführer“, sagte ein Gast. Daraufhin bemerkte ein anderer: „Bei uns in Meinersdorf ist es dieses Judenschwein Lesser. Er zieht die Strippen.“ Nach einer Weile entgegnete Hilde Lesser laut: „Das Judenschwein ist mein Mann“. Zur Erklärung: Zwar war Willy Lesser kein Jude, zahlreiche deutsche Juden trugen aber den Namen Lesser. Auch in Chemnitz gab es mit Hermann Lesser einen namhaften jüdischen Kaufmann, in dessen Geschäftshaus das Warenhaus Tietz bis 1913 residierte.
Wegen des Verdachts von Hochverrat wurde Lesser am 31. Januar 1935 zusammen mit weiteren Kampfgefährten (u. a. Fritz Neubert, Max Büttner und Rudolf Döbbelin) in Chemnitz in Untersuchungshaft genommen. Was war geschehen? Erich Mückenberger gab später an: „Durch das Hochgehen eines Kuriers aus Leipzig kam [Lesser – d. Verf.] vor den Untersuchungsrichter.“ Zwei Leipziger Kampfgefährten waren damals polizeilich beobachtet worden. Sie hatten an einer konspirativen Beratung in einer Buchhandlung in der Theaterstraße 30 a teilgenommen und dort verbotene Bücher hinterlegt. Das ehemalige Mitglied des Reichstages Arno Friedrich Bruchardt (1883–1945) war einer der beiden. Ein jugendlicher Mitarbeiter der Buchhandlung hatte das Versteck nicht für sich behalten können.
Der Buchhändler Rudolf Döbbelin (1905–1968), der bis 1933 in der Buchhandlung der SPD im Haus Dresdner Straße 40 tätig war, hatte nach deren Schließung im I. Obergeschoss des Hauses Theaterstraße 30a einen eigenen Buch- und Zeitschriftenvertrieb eröffnet, der 1934/35 zu einem beliebten Treffpunkt ehemaliger Mitglieder der KPD und SPD wurde. In den Augen des Leiters des NS-Gewerbeamtes in Chemnitz war die Buchhandlung eine „illegale Arbeitsstätte“ bzw. „Anlaufstelle“ von Staatsfeinden, die verstärkt beobachtet werden sollte.
Am 14. Februar 1935 erließ das Amtsgericht Chemnitz einen Haftbefehl gegen Lesser, Büttner, Döbbelin und Neubert erlassen. Sie wurden bezichtigt, „den Fortbestand und die Wiederherstellung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ zu betreiben. Der Oberreichsanwalt, wohl Karl August Werner (1876–1936), stellte das Verfahren jedoch wegen Mangels an Beweisen ein. Deshalb wurden die Beschuldigten am 13. Juli 1935 aus dem Untersuchungsgefängnis auf dem Kaßberg entlassen. Das hieß aber nicht, dass sie zu ihren Angehörigen nach Hause zurückkehren konnten.
Willy Lesser, Max Büttner und Rudolf Döbbelin wurden umgehend in das Konzentrationslager Sachsenburg eingeliefert. Die Häftlinge mussten Strafarbeiten in der Fuhrkolonne, im Steinbruch, in der Wäscherei und der Küche verrichten. Auch in Sachsenburg hielt Lesser, wie Mückenberger, der am 18. November 1935 in das Lager eingeliefert worden war, berichtete, „die Verbindungen mit den ihm bekannten Sozialisten und Kommunisten aufrecht“.
Alle zwei Wochen konnte Willy Lesser einen Brief an seine Ehefrau Hilde schreiben. Von diesen Briefen sind zwei erhalten, die in dem postum erschienenen Buch seines Sohnes Peter Aufnahme fanden. Am 23. August 1935 bedankte er sich bei seiner Familie „für [ihr] Mitfühlen und Helfen“. Neben Hosenträgern wünschte er sich zu seinem 34. Geburtstag eine Ausgabe des „Zupfgeigenhansels“, des Liederbuches der 1896 in Berlin-Steglitz gegründeten „Wandervogelbewegung“. Am 2. Januar 1936 war er voller Zuversicht, dass „die längste Zeit unserer Trennung vorüber“ wäre. In dem Brief beschwor er den neuen Glauben und die neue Hoffnung, die mit dem neuen Jahr ins Lager eingezogen wären. Außerdem ist ein Schreiben von Adolf Lesser an die Geheime Staatspolizei in Dresden überliefert, in dem er sich im Januar 1936 für die baldige Entlassung seines Sohnes einsetzt. Darin hob er dessen „ehrlichen, wahrhaftigen und lauteren Charakter“ vor.
Willy Lessers Zuversicht erfüllte sich. Zwischen dem 13. Januar und dem 5. Februar 1936 erfolgte die obligatorische Beurteilung der Häftlinge durch den Lagerkommandanten. Die Blätter zu Döbbelin und Lesser blieben leer, was bedeutete, dass beide am 12. Februar 1936 aus dem Lager entlassen wurden. Das Blatt zu Büttner enthielt folgenden euphemistischen Vermerk: „Zufriedenstellend. - Büttner ist --- politisch noch nicht einwandfrei, hat noch vier Wochen zur Umschulung nötig“.
Willy Lesser war endlich wieder mit seiner Familie vereint. Kurze Zeit war er ohne Arbeit. Die teure Wohnung auf dem Kaßberg mussten die Eheleute deshalb aufgeben und in die Vorstadt Gablenz ziehen. Im II. Obergeschoss des Hauses Heimgarten 128 fanden sie eine bezahlbare Wohnung. Nunmehr zählten Handlungsgehilfen, Lackierer und Mechaniker zu ihren Nachbarn. Lesser setzte „den Kampf für unsere Sache“, wie Mückenberger sich ausdrückte, fort. Nur einem glücklichen Zufall wäre es zu danken, dass er nicht „wieder in die Klauen der Gestapo geriet“.
Lessers Berufserfahrung half ihm damals, bald wieder eine Anstellung zu finden. Bis zum 7. Januar 1939 war er als freier Vertreter auf dem Gebiet des Lebensmittelhandels (auch Provisionsvertreter) tätig. Im Februar 1939 bewarb er sich aufgrund einer Stellenanzeige als Vertreter bei der Deutschen Großeinkaufs-Gesellschaft mbH in Hamburg, die eine Niederlassung in Chemnitz hatte. Am 7. März 1939 wurde er im Lager B, Chemnitz der Deutschen Großeinkaufs-Gesellschaft mbH als „warenkundiger Fachberater im Außendienst“ (Reisevertreter) eingestellt. Damit verbunden war im November 1940 der Umzug in das Haus Rößlerstraße 33. Am 1. Januar 1942 wurde er schließlich Leiter des Einkaufs in der Gemeinschaftswerk-Versorgungsring Chemnitz GmbH. Der Lebensmittel-Großhandelsbetrieb hatte seinen Sitz auf dem Industriegelände Melanchthonstraße 68 im Lutherviertel. Gegen Kriegsende wurde er noch zum Volkssturm eingezogen.
Im Mai 1945 wurde Willy Lesser von der sowjetischen Besatzungsmacht mit der Wiedererrichtung der Konsum-Genossenschaft (KG) in Chemnitz beauftragt. Er erhielt dazu alle erforderlichen Vollmachten, einschließlich eines Dienstwagens der Marke „Mercedes“. Der Betriebsausschuss der Gemeinschaftswerk-Versorgungsring Chemnitz GmbH bescheinigte ihm am 26. Juni 1945, dass er fortan als „Geschäftsführer“ beschäftigt war. Die Eheleute wohnten nunmehr auf dem Gelände Kauffahrtei 23.
Als Lesser im November 1945 bei den Behörden den Antrag zur Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ stellte, bürgte neben Erich Mückenberger auch Hans Hermsdorf (1914–2001) für ihn. Während Mückenberger später Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED war, gehörte Hermsdorf in den 1970er-Jahren der Bundesregierung als Staatssekretär an.
In Vorbereitung der Neugründung der Konsumgenossenschaft war vom 14. Januar bis zum 30. März 1946 ein Organisationsbüro tätig. Als Vorsitzender wurde von der Stadtverwaltung der Ernährungsinspektor Kurt Berthel (1897–1960) eingesetzt. In den Folgewochen wurden fast 40 000 Mitglieder im Stadt- und Landkreis erfasst. Am 30. März 1946 fand die Gründungsversammlung der KG Chemnitz eGmbH in der Aula des Realgymnasiums, des heutigen Georgius-Agricola-Gymnasiums, statt. Lesser wurde zum 1. Geschäftsführer und Vorsitzenden des Vorstandes gewählt.
Die Vereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im April 1946 hatte nicht nur Befürworter. Neben Hans Hermsdorf, Erich Rottluff und Moritz Nestler galt Willy Lesser in Chemnitz als einer der Wortführer der sogenannten „Einheitsgegner“ innerhalb der SED. Der Besuch der Landesparteischule in Ottendorf, der vormaligen Bezirksparteischule der KPD, im Dezember 1948 sollte dazu dienen, Lessers „politische Bildung“ auf das Niveau von Spitzenfunktionären anzuheben. Dass dies der zwölfwöchige Kurs bei ihm bewirkte, kann bezweifelt werden.
Am 28. April 1950 schied Lesser aus der KG Chemnitz aus. Vorausgegangen war sein Ausschluss aus der SED im Zusammenhang mit einer „Spirituosen-Affäre“ in Flöha. Die Hintergründe bedürfen einer gesonderten Betrachtung. Gerade damals erschwerten Spekulation, Schwarzmarkt und Kompensation die Herstellung planmäßiger Beziehungen im Handel. Mit Zustimmung des Landesverbandes Sachsen wechselte er noch im selben Jahr zum Verband Deutscher Konsumgenossenschaften (VDK) Brandenburg und war dort als Instrukteur tätig.
Während dieser Zeit wurde Lesser durch Vermittlung des damaligen Verbandsvorsitzenden Stoye verantwortlich für die Versorgung des ersten Deutschlandtreffens der Jugend (auch Pfingsttreffen der Freien Deutschen Jugend), das vom 27. bis 30. Mai 1950 in Berlin (Ost) stattfand. An dem Treffen hatten 700 000 Jugendliche teilgenommen, darunter auch Mitglieder der später als verfassungsfeindlich verbotenen FDJ der Bundesrepublik Deutschland. Neben einem umfangreichen kulturellen Programm fanden auch Vorträge und Diskussionsveranstaltungen statt. Diese Aufgabe hatte Lesser, wie später zu lesen war, „zur größten Zufriedenheit“ gelöst. Anschließend wurde ihm - in Verbindung mit einem weiteren Mitarbeiter - die Überführung des Wismut-Konsums als Betriebsstätte in den Verband Sächsischer Konsumgenossenschaften (VSK) mit Sitz in Dresden übertragen. Er blieb aber weiterhin Angestellter im VDK Brandenburg.
Im Dezember 1950 übersiedelte Lesser nach Berlin (West). Als Grund für den Seitenwechsel wurde von den DDR-Behörden „Verärgerung und Unsicherheit“ angenommen. Seine ehemaligen Weggefährten warfen ihm sogar „Verrat an der Arbeiterklasse“ vor. Später lebte Lesser in Hamburg, wo er als Leiter des Gesamtdeutschen Arbeitskreises des 1948 wiedergegründeten Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften e. V. (ZdK) tätig war. Nachdem er sich in der Hansestadt etabliert hatte, holte er seine Ehefrau und die Kinder zu sich. Diese hatten bis dahin noch in Chemnitz ausgeharrt.
Grund für die Abwanderung könnten aber auch Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden der 1949 gegründeten DDR gegen „den Einheitsgegner“ Willy Lesser gewesen sein. Diese führten dazu, dass Willy Lesser in Abwesenheit „wegen Handels mit unkuranten Waren“ und „zu viel verbrauchter Repräsentationen“ im Dezember 1951 in Abwesenheit zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Einzelheiten des Verfahrens sind nicht bekannt. Im selben Monat wurde mit Gustav Grieger, dem Abteilungsleiter für Verwaltung, einer von Lessers ehemaligen Mitarbeitern zu einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Dem früheren Sachsenburger Häftling waren fehlerhafte Buntmetallmeldungen zur Last gelegt worden.
In den Jahren 1955/56 geriet Lesser ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, das ihn in Westdeutschland anwerben wollte. Es entwickelte sich jedoch seitens der Behörde. „kein operatives Interesse“. Im Jahr 1958 verlegte Lesser seinen Wohnsitz nach Hannover, wo er bis zu seiner Pensionierung weiterhin als Geschäftsführer für den ZdK tätig war.
Willy Lesser starb am 31. Juli 1972 in Kassel, wo er mit seiner Ehefrau den Lebensabend verbringen wollte. Er wurde in einem Gemeinschaftsgrab der Familie Lesser auf dem Hauptfriedhof in Kassel beigesetzt. Die Grabstätte, in der insgesamt sechs Familienmitglieder zur letzten Ruhe gebettet worden waren, wurde im Jahr 2021 eingeebnet. Hildegard Lesser zog nach dem Tod ihres Ehemannes wieder nach Hamburg, wo sie in der Nähe ihres Sohnes Peter wohnte. Sie verstarb am 28. Juli 1991 und wurde auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg zur letzten Ruhe gebettet.
Die Enkeltochter Susan Lesser pflegt das Erbe ihres Großvaters. Die Rechtsanwältin und Richterin am Sozialgericht a. D. unterstützt auch die Bemühungen in Hamburg, einen Stolperstein in Gedenken an Willy Lesser zu verlegen.
Text: Dr. Jürgen Nitsche
Zur Person
Nachname: | Lesser |
Vorname: | Adolf Willy |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 11.09.1901 |
Geburtsort: | Kassel |
Sterbedatum: | 31.07.1972 |
Sterbeort: | Kassel |
Begräbnisstätte: | Hauptfriedhof Kassel |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Staatsarchiv Chemnitz, 30413 Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 51315, 56199, 57586
Staatsarchiv Chemnitz, 30878 Konsumgenossenschaftsverband des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 3004
Peter Lesser, Bubu. Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend in Chemnitz zwischen Hitler und Stalin 1936 bis 1951, Norderstedt 2022.
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