Kurt Müller (1903–1977)
Kurt Müller war ein führendes Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD, häufig auch Sozialistische Arbeiterpartei, SAP genannt) in Mittelsachsen. Die Partei, die am 4. Oktober 1931 in Berlin als linkssozialistische Abspaltung von der SPD gegründet worden war, setzte sich in dieser Zeit mit Nachdruck für eine Einheitsfront von SPD, KPD, Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen im Kampf gegen den erstarkenden Nationalsozialismus ein. Zu ihren Führern gehörten u. a. Paul Frölich, Max Seydewitz und Jacob Walcher.
Kurt Herbert Müller wurde am 11. Juli 1903 als Sohn eines Werkmeisters in der Landgemeinde Bräunsdorf bei Limbach (Sachsen) geboren. Seine Eltern waren Max Müller und die aus Bayern stammende Anna Suttner. Er hatte noch vier Brüder und vier Schwestern. Die Eltern erzogen ihren Sohn in protestantischer Tradition. Von 1910 bis 1918 besuchte er die Volksschule in Bräunsdorf und fiel dem Klassenlehrer „durch Intelligenz, durch Interesse für Lesen und Schreiben“ auf, wie sich Jahre später sein Sohn Heiner erinnerte. Der Lehrer empfahl ihm eine „Tätigkeit in irgendeiner Schreibstube“ und so wurde Kurt Müller im April 1918 Schreiberlehrling im Rathaus der Gemeinde Bräunsdorf. Im Februar 1922 wechselte er als Beamtenanwärter in die Stadtverwaltung von Limbach. Bereits im November 1923 wurde er Verwaltungssekretär im Rathaus von Eppendorf. In dem im Kreis Flöha gelegenen Industriedorf lernte er seine künftige Ehefrau, deren Vater ein bekennender Sozialdemokrat war, kennen. Im Jahr 1925 legte er mit Erfolg die I. Verwaltungsprüfung bei der Gemeindelehranstalt in Dresden ab. Im Jahr 1931 wurde er Beamter auf Lebenszeit. In dieser Eigenschaft war er auch Mitglied des Sächsischen Gemeindebeamtenbundes.
Seit Anfang der 1920er-Jahre engagierte sich Müller für die Ziele der deutschen Arbeiterbewegung. So wurde er im Jahr 1922, erst 19-jährig, Mitglied der SPD. Er gehörte zunächst der Ortsgruppe Limbach an, bevor er später Verantwortung in der Ortsgruppe Eppendorf übernahm. Er wurde ihr Vorsitzender und zugleich Vorsitzender des Kleinbezirkes Flöha. Im Jahr 1931 verließ er die SPD, schloss sich der neu gegründeten SAP an und wurde Vorsitzender ihrer Ortsgruppe in Eppendorf. Er war auch Mitglied des 1924 gegründeten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Darüber hinaus unterstützte er in vielfältiger Weise die Arbeitersport- und Kulturbewegung in der Region. So gehörte er dem Arbeiter-Turn- und Sportbund sowie dem Arbeiterschachbund an.
Seit dem 11. August 1928 war Kurt Müller mit der um zwei Jahre jüngeren Ella Ruhland verheiratet. Am 9. Januar 1929 wurde ihr Sohn Heiner in Eppendorf geboren. Der jüdische Arzt Dr. Ludwig Katzenstein (1887-1943), der erst wenige Monate zuvor eine Praxis in Eppendorf übernommen hatte, wurde sein Geburtshelfer.
Der Grund für die Verhaftung war der Besitz eines Revolvers. Ella Müller und ein Schwager hatten diesen umgehend im Wald vergraben, doch wurden sie von einem „befreundeten“ Lehrer verraten. Sie wurden ebenfalls verhaftet und im Rathaus in Eppendorf für kurze Zeit festgehalten. In SA-Begleitung zeigten Ella Müller und ihr Schwager am Folgetag das Versteck im Wald. Daraufhin wurde Kurt Müller am 17. März 1933 in das benachbarte „Schutzhaftlager“ Plaue bei Flöha, das erst wenige Tage zuvor in einer ehemaligen Turnhalle des Arbeiter-Turn- und Sportbundes eingerichtet worden war, gebracht. Dort wurde er Zeuge, wie die SS einen Großteil der „Schutzhäftlinge“ bei Verhören in einer Kammer aufs schwerste misshandelte. Dr. Ludwig Katzenstein, der selbst als Häftling im Lager war, bemühte sich, erste Hilfe zu leisten. Am 8. April 1933 befanden sich etwa 170 Gefangene in dem Lager. Noch vor dessen Auflösung wurde Müller am 18. Mai 1933 in das neu errichtete Konzentrationslager Sachsenburg verlegt. Er arbeitete auf der Schreibstube des SA-Lagerleiters Max Hähnel.
Aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurde Kurt Müller aus dem Verwaltungsdienst entfernt. Während der Haftzeit wurde in dem kleinen Ort gegen die Familie Müller gehetzt. Die Nachbarkinder durften nicht mehr mit dem vierjährigen Heiner spielen. Am 5. Juni 1933 wurde dieser getauft. Sein Vater erhielt dafür sogar Hafturlaub. Im September 1933 wurde die Familie gezwungen, auf Anordnung des NSDAP-Ortsgruppenleiters die Wohnung in Eppendorf (Freiberger Straße 137 c) aufzugeben. Ella Müller konnte ins Haus ihrer Schwiegereltern in Bräunsdorf ziehen.
Am 1. Juli 1938 zog Kurt Müller mit seiner Familie nach Waren (Müritz) in Mecklenburg, wo er eine Stelle als Hilfsangestellter (Betriebsprüfer) bei der Landkrankenkasse antreten konnte. Eine Stellenanzeige hatte ihn dahin geführt. Infolge seiner neuen Tätigkeit wurde er Mitglied der Deutschen Arbeitsfront und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Auch in der beschaulichen Kurstadt Waren geriet Müller in Konflikt mit der NS-Justiz. Aufgrund des „Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ (Heimtückegesetz) vom 20. Dezember 1934 wurde er im Jahr 1940 verhaftet. Staatsfeindliche Äußerungen waren ihm zur Last gelegt worden. Nach drei Wochen Untersuchungshaft wurde er aus dem dortigen Gerichtsgefängnis entlassen. Das Verfahren war aus Mangel an Beweisen eingestellt worden.
Mitten im Krieg erblickte Wolfgang, der zweite Sohn, am 18. August 1941 das Licht der Welt. Als dieser anderthalb Jahre alt war, wurde der Familienvater am 27. März 1943 in die Wehrmacht einberufen. Anfangs war er Soldat, später Gefreiter bei der Nachschubkompanie 512 in Südfrankreich, im Elsass und zuletzt im Schwarzwald. Am 8. Mai 1945 geriet er in Tirol in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Einen Monat später kehrte er nach Waren zurück und wurde am 1. August 1945 stellvertretender Leiter des Arbeitsamtes in der Stadt. Bereits am 1. November 1945 wurde er zum Leiter der Hauptverwaltung im Landratsamt Waren berufen.
Nach Kriegsende setzte Kurt Müller sein politisches Engagement für die Arbeiterbewegung fort. Bereits am 1. Juli 1945 kehrte er in die Reihen der SPD zurück und wurde zunächst deren Ortsvorsitzender in Waren und 1946 Kreisvorsitzender. Am 1. Februar 1946 trat er in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund ein.
Zum 1. November 1947 war Kurt Müller vom Landratsamt Flöha zum Bürgermeister von Frankenberg ernannt worden. Der Ortsvorstand der SED hatte ihn für dieses Amt empfohlen, obwohl er vielen „Parteigenossen“ in der Stadt nicht bekannt war. Vermutlich hatte sich Franz Ebert, ein ehemaliger Kampfgefährte, der in dieser Zeit Zweiter Bürgermeister der Stadt und Mitglied des Ortsvorstandes der SED war, für Müller eingesetzt. Der Antifaschistisch-Demokratische Block hatte vorab großes Vertrauen in ihn gesetzt. Müller unterschrieb daraufhin am 1. November 1947 den vorgeschriebenen „Verpflichtungsschein“, in dem er sein Bekenntnis zum Aufbau eines neuen, demokratischen Deutschlands abgab.
Die Familie zog in die Stadt in Mittelsachsen, wo sie zunächst zur Untermiete im Haus Mühlenstraße 5 wohnte. Ende 1948 bezogen die Eheleute eine Wohnung im Haus Freiberger Straße 14, in dem bis zum Sommer die sowjetische Stadtkommandantur und danach die Volkspolizei untergebracht waren.
Laut Beschluss des Kreisausschusses für „Opfer des Faschismus“ (OdF) wurde Kurt Müller am 7. Februar 1948 als solches anerkannt. Damit war u. a. die Aushändigung einer erhöhten Lebensmittelkarte verbunden. Laut Aussage seines Sohnes Heiner erhielt er am 9. April 1948 in Flöha sogar den „roten Kämpferausweis“ (Nr. 16422). Am 24. Januar 1949 trat Müller auch der „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“ bei. Dennoch machte der sowjetische Stadtkommandant dem Bürgermeister das Leben weiterhin schwer. Heiner Müller bemerkte dazu, dass sein Vater sich stets bemühte, „Kompromisse mit den russischen Besatzungsstellen zu finden“. Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 wurde die sowjetische Militäradministration zwar aufgelöst, doch der Stadtkommandant übergab die administrative Macht erst am 15. November 1950 in deutsche Hände.
Am 27. November 1950 meldete sich Müller krank. Eine Grippe hatte ihm zugesetzt. Zehn Tage später trat er wieder seinen Dienst an. Dr. Siegfried Simon, der leitende Arzt am Städtischen Krankenhaus, attestierte ihm jedoch am 28. Dezember 1950 einen Herzmuskelschaden infolge des grippalen Infekts. Vor allem aber litt er an einer unheilbaren Krankheit, und zwar am „Sozialdemokratismus“, wie er dies gegenüber seinen Eltern in Bräunsdorf anvertraut hatte. Kurt Müller nutzte das baldige Ende der Legislaturperiode, um am Folgetag von seinem Amt zurückzutreten.
Der Stadtrat stellte ihm trotz alledem ein wohlwollendes „Arbeitszeugnis“ aus: Während seiner Amtszeit, hieß es, „hat er seine reichen beruflichen und fachlichen Fähigkeiten uneigennützig der Stadtverwaltung sowie der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt“. Rudolf Störzel (1904-1987), bisher Sekretär der SED-Betriebsgruppe der Stadtverwaltung Freiberg, wurde noch am 29. Dezember 1950 sein Nachfolger.
Für Müller völlig unerwartet wurde am 7. Februar 1951 seine „Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes“ vom Prüfungsausschuss beim Kreisratsamt Flöha zurückgenommen. Das Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen des Landes Sachsen stimmte dem Beschluss am 11. Juli 1951 zu. Müller wollte sich mit dem Ausschluss aus der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes nicht abfinden und legte Einspruch ein. Die VdN-Landesdienststelle in Dresden bestätigte jedoch am 9. Februar 1952 den Beschluss. Bis zum 12. März 1952 sollte er seinen OdF-Ausweis den Behörden zurückgeben. Als Grund dafür wurde „Schädigung des Ansehens der VdN“ in ihrer Gesamtheit genannt. In dem Schreiben an Müller wurde auf „die ihm bekannten Vorgänge“ verwiesen. Einer Aktennotiz in seiner VdN-Akte ist folgendes zu entnehmen: „Müller hat als Bürgermeister der Stadt Frankenberg öffentliche Gelder in Saufgelagen mit Bürgerlichen verprasst. Als Genosse der SED hat er sich außerdem sektiererischen und parteischädigenden Handlungen schuldig gemacht“. Die Verantwortlichen warfen ihm zudem „Titoismus“ vor. Bei dieser Bezeichnung handelte es sich um eine Anlehnung an das politische Handeln Josip Broz Titos (1892-1980). Der damalige Partei- und Staatschef von Jugoslawien praktizierte einen Gegenentwurf zu Ideologie und Herrschaftspraxis in der UdSSR. Einstige Freunde, die an den angeblichen „Partys“ teilgenommen hatten, distanzierten sich von Müller. Der Vorwurf der „Sauferei“ war damals ein beliebtes Instrument, um sich von unbequemen Parteifunktionären zu trennen.
Kurt Müller befand sich zu diesem Zeitpunkt (März 1952) längst nicht mehr in Frankenberg. Ohne sich polizeilich abzumelden, war er über Chemnitz nach Berlin (West) geflohen. Der überraschende Ausschluss aus der VVN im Februar 1951 könnte ihn dazu bewogen haben. Zunächst wurde er in einem Krankenhaus in Charlottenburg wegen Typhus behandelt. Nach seiner Genesung zog er durch Vermittlung eines Freundes nach Westdeutschland, wo er in Reutlingen (Württemberg) seine Wiedereinstellung in den Beamtenstand erreichte. Müllers Ehefrau folgte ihm mit dem jüngeren Sohn im Frühjahr 1951 nach Reutlingen. Nur sein älterer Sohn blieb in der DDR. Im Jahr 1966 wurde Müller durch einen Schlaganfall als Beamter im Tübinger Regierungspräsidium dienstunfähig und im Folgejahr in den Ruhestand versetzt. Am 18. März 1977 starb er in Reutlingen. Ella Müller, die Witwe, gab daraufhin ihren Wohnsitz in der BRD auf und zog zu ihrem Sohn Wolfgang in die DDR, wohin dieser bereits Ende der 1950er-Jahre zurückkehrt war.
Zur Person
Nachname: | Müller |
Vorname: | Kurt |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 11.07.1903 |
Geburtsort: | Bräunsdorf (heute Ortsteil der Großen Kreisstadt Limbach-Oberfrohna) |
Sterbedatum: | 18.03.1977 |
Sterbeort: | Reutlingen |
Letzter frei gewählter Wohnort: | Waren (Müritz) / Frankenberg (Sachsen) |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Staatsarchiv Chemnitz, 30413 Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 50310.
Stadtarchiv Frankenberg, Personalakte, Nr. 290.
Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992.
Jan-Christoph Hauschild, Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin 2001.
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