Heinrich Rochlitzer (1896–1938)
Der Fabrikarbeiter Heinrich Rochlitzer gehörte zu den Häftlingen des Konzentrationslagers Sachsenburg, die sich nach der Entlassung infolge ihrer fortwährenden Misshandlungen durch die SS das Leben nahmen. Die Zahl dieser Todesfälle ist bislang nicht bekannt, und es ist fraglich, ob sie überhaupt jemals ermittelt werden kann. Eine „Autopsie“ aller behördlichen Angaben zu den Todesfällen bis zum 8. Mai 1945 oder gar darüber hinaus wäre erforderlich.
Gustav Heinrich Rochlitzer wurde am 24. November 1896 als sechstes von insgesamt elf Kindern des Oswald Hermann Rochlitzer (1869–1916) und der Hulda Seifert (*1871) in Langenau (Amtshauptmannschaft Freiberg) geboren. Die Dorfgemeinde, die damals etwa 2 500 Einwohner zählte, erfuhr zu jener Zeit eine schrittweise Industrialisierung (Düngemittel, Holzwaren und Möbel). Die Langenauer Kunstmöbelfabrik, die Karl Hergert gegründet und Erich Spindler fortgeführt hatte, war einer der größten Arbeitgeber.
Die Eltern erzogen ihre Kinder in evangelisch-lutherischer Tradition. Heinrich besuchte die achtjährige Dorfschule von Langenau. Vermutlich schloss sich eine Lehre an. Im Anschluss daran war er zunächst in der Holzbranche als Arbeiter tätig, bevor er in eine Schuhfabrik wechselte.
Während des Ersten Weltkrieges (1914–1918) wurde Rochlitzer im Jahr 1916 für den Heeresdienst rekrutiert und nahm bis Kriegsende an den Kämpfen teil. Er kehrte mit verschiedenen Auszeichnungen in die mittelsächsische Heimat zurück. Nach der Entlassung im Jahre 1919 arbeitete er wieder in der Schuhfabrik, bevor die Firma in der Zeit der Hyperinflation 1922 in Konkurs ging. Eine neue Arbeit konnte er in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit nicht finden. Fortan stand er in der produktiven Erwerbslosenfürsorge, der im Herbst 1923 eingeführten Pflichtarbeit für Erwerbslose. Damit sollte in der Weimarer Republik die unterstützende Fürsorge in eine produktive umgewandelt werden. Die Gemeindeverwaltung setzte ihn immer wieder zu Straßenarbeiten ein. Eine Fingerlähmung, die er sich durch einen Unfall mit der Kreissäge zugezogen hatte, behinderte ihn bei der Arbeit.
Im Jahr 1919 ging Heinrich Rochlitzer die Ehe mit Milda Sidonie Lange ein. Sie schenkte zwischen 1919 und 1933 sieben Kindern das Leben. Die junge Familie wohnte fortan in dem Haus Nr. 90 in Langenau. Gleich in der Nachbarschaft (Nr. 91) hatten seine Eltern und sein Bruder Heinrich ihren Wohnsitz. Die Ehe wurde später als „glücklich“ beschrieben. Sie hatte aber zu anhaltenden Zerwürfnissen innerhalb der Familie geführt. Zur Erklärung: Sein 1916 in Frankreich gefallener Bruder Emil hatte eine „Geliebte“ (vermutlich Verlobte), und diese sollte Heinrich laut Willen der Eltern zur Ehefrau nehmen. Er hatte sich aber „eine nach seinem Geschmack gesucht“. Deshalb „sei ein furchtbarer Hass vonseiten seiner Angehörigen“, wie er später zu Protokoll gab, „auf ihn gefallen“.
Über Rochlitzers Leben liegen nur wenig zuverlässige Daten vor. Bekannt ist, dass er einem Turnverein angehörte. Ob dies der Arbeiter- und Turn-Sportverein war, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Er tanzte gern, liebte die Geselligkeit und hatte daher auch viele Freunde und Freundinnen. Wegen Sammeln von Reisig im Wald galt er als vorbestraft.
Frühzeitig engagierte sich Heinrich Rochlitzer politisch. So wurde er Mitglied der KPD und der Roten Hilfe Deutschlands (RHD). Im März 1920 nahm er an den Kämpfen zur Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches in Freiberg teil. Im Herbst 1923 setzte er sich beim Reichswehr-Einmarsch in Sachsen ebenfalls zur Wehr. Er beteiligte sich an bewaffneten Aktionen in Brand-Erbisdorf und Langenau. Infolgedessen wurde er in seiner Wohnung von Angehörigen der Reichswehr verhört und dabei schwer misshandelt, sodass er zusammenbrach. Rochlitzer wurde daraufhin zur Behandlung nach Freiberg verbracht. Sein Sohn Werner erlitt damals einen Schock, infolgedessen er das Gehör verlor. Aufgrund von nicht näher bekannten Meinungsverschiedenheiten wurde Rochlitzer noch im selben Jahr aus der KPD ausgeschlossen. Bis zum Jahr 1927 gehörte er noch der RHD an.
In der Folgezeit trat Heinrich Rochlitzer der SA bei und wurde auch Mitglied des am 25. Dezember 1918 in Magdeburg gegründeten Wehrverbandes „Stahlhelm“. Seit dieser Zeit fühlte er sich im Dorf, in der Eisenbahn und unterwegs „beobachtet“ und „verfolgt“. Mehrfach drangen Unbekannte in seine Wohnung ein und entwendeten Werkzeug, Hausgeräte oder andere Dinge. In der Folgezeit wurde er auch aus den monarchistisch bzw. nationalsozialistisch ausgerichteten Verbänden ausgeschlossen. Die Gründe hierfür sind ebenfalls nicht überliefert. Seitdem war er bemüht, sich stets nach außen „neutral“ zu verhalten.
Nationalsozialistische Gewaltakte gegen Mitglieder der SPD und der KPD gehörten nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zur Tagesordnung. Im März 1933 wurde Rochlitzers Schwager Fritz-Theodor Börner, der auch in Langenau wohnte, für einige Wochen in „Schutzhaft“ genommen. Als Mitglied der SPD und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold war ihm illegaler Waffenbesitz vorgeworfen worden. Im Mai 1933 wurde er in der „Fronfeste in Freiberg“ verhört, bevor er im September für drei Monate in das KZ Sachsenburg verlegt wurde. Im April 1936 wurde der 38-jährige Schlosser/Eisenbohrer erneut verhaftet.
Heinrich Rochlitzer blieb zunächst von den Repressalien der Nationalsozialisten verschont. Am 23. September 1936 wurde jedoch auch er verhaftet und „wegen staatsfeindlicher Einstellung“ umgehend in das Konzentrationslager Sachsenburg überstellt. Er konnte dies nicht begreifen. Einer seiner Brüder, wohl Paul Gerhard, hatte ihm aber erklärt, „er [Heinrich – d. Verf.] sei und bleibe ein Kommunist“. Die unmenschlichen Haftbedingungen setzten ihm zu, sodass er schon bald ernsthaft erkrankte. Aufgrund der zunehmenden seelischen Zerrüttung fand er am 9. Dezember 1936 im Häftlingsrevier Aufnahme. Der Lagerkommandant lehnte jedoch am 7. Januar 1937 seine Entlassung ab. Erst im Februar 1937 kam Rochlitzer wieder nach Hause. Fortan litt er unter Verfolgungswahn und anderen psychischen Störungen. So warf er dem Bürgermeister Walter Schraps vor, dieser würde verhindern, dass er wieder eine geregelte Arbeit aufnehmen könnte.
Um die Familie zu ernähren, sah sich Rochlitzer gezwungen, wieder Straßenarbeiten in Langenau zu übernehmen. Mitte Mai 1937 wurde er nach Freiberg geschickt, um auch dort im Straßenbau zu arbeiten. Infolge des labilen Gesundheitszustandes sah er sich jedoch nicht mehr dazu in der Lage, die körperlich schweren Arbeiten ganztägig auszuführen. Daher wurde er in das Freiberger Stadt- und Bezirkskrankenhaus eingeliefert, wo er zwei Monate lang behandelt wurde. Die abschließende Diagnose lautete „Schizophrenie“.
Aufgrund des in Freiberg festgestellten Krankheitsbildes wurde Rochlitzer am 24. Juli 1937 in die Heil- und Pflegeanstalt Hochweitzschen verlegt. Bereits am Folgetag besuchten ihn zwei seiner besorgten Geschwister. Die Anstaltsleitung setzte ihn für Arbeiten in der Wegebaukolonne ein. Rochlitzer sah sich dort aber nicht als Patient, sondern weiterhin als Gefangener. Daher verweigerte er auch oftmals die Esseneinnahme. Im Oktober 1937 äußerte er gegenüber den Pflegern offen Fluchtgedanken. Und tatsächlich entfernte er sich am 2. November 1937 von seiner Arbeitsstätte, um angeblich in der benachbarten Stadt Döbeln Arbeit zu suchen. Pfleger griffen ihn auf und brachten ihn wieder in die Heilanstalt. Fortan war er in der anstaltseigenen Schneiderei tätig, was ihm offensichtlich zusagte.
Gleichzeitig verstärkte Rochlitzer seine Bemühungen, „um wieder zu seiner Familie zu kommen“. Er wandte sich wiederholt vergeblich mit Gesuchen an die Anstaltsdirektion. Um dies zu erreichen, willigte er in der Folgezeit ein, sich sterilisieren zu lassen. Zu diesem Zweck hatte er seine Ehefrau für den 14. November 1937 in die Anstalt eingeladen, um dies mit ihr zu besprechen. Von dem Verlauf des Besuches war er „zufriedengestellt“. Die Ehefrau versprach ihm auch, ihn „noch vor Weihnachten nach Hause“ zu holen. Dazu sollte es aber nicht kommen.
Im Januar 1938 wurde Rochlitzer auf eine andere Station verlegt, wo er mit Mitpatienten Skat spielen konnte. Die weinerlichen Zustände und Aufregungen, die seine ersten Monate in der Anstalt prägten, ließen nach. Dennoch wandte er sich mit vielen Fragen an die Pfleger, die sich in der Hauptsache darum drehten, „ob er nach der Sterilisation wohl noch lange in der Anstalt verbleiben“ müsse und „ob sein damaliger Fluchtversuch erschwerend auf seine Entlassung“ wirke.
Am 18. Januar 1938 wurde Rochlitzer in die Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß überführt. Die Landesanstalt war das Zentrum in Sachsen, um behinderte Frauen und Männer in der NS-Zeit zwangsweise unfruchtbar zu machen. Noch am selben Tag wurde er dort sterilisiert, vermutlich von dem Arzt Dr. Thilo Volkmann (1876–1944). Ein Protokoll ist nicht überliefert. Bereits am 24. Januar 1938 waren die Operationswunden verheilt und Rochlitzer konnte drei Tage später nach Hochweitzschen zurückverlegt werden. Er hoffte nun, bald aus der Anstalt entlassen zu werden. Am 15. Februar 1938 bat er wieder um „Außenarbeit“, die aber abgelehnt wurde. Der Grund dafür, dass sich seine Entlassung so lange hinauszog, war die ablehnende Haltung des langjährigen Bürgermeisters von Langenau. Warum Walter Schraps seine Zustimmung verweigerte, ist nicht überliefert.
Milda Rochlitzer besuchte am 4. März 1938 ihren Ehemann in Hochweitzschen, da sich dessen Zustand allmählich wieder verschlechterte. Er zog sich zunehmend zurück, grübelte und saß allein in irgendeiner Ecke. Die Anstaltsdirektion beabsichtigte in dieser Zeit sogar, den zunehmend verworrenen Patienten in „ein Bezirksheim“ zu verlegen, vermutlich in das Alters- und Pflegeheim des Kreises Döbeln in Technitz. Am 21. März 1938 wurde Heinrich Rochlitzer jedoch aus der Anstalt entlassen. Milda Rochlitzer holte ihren Ehemann ab und brachte ihn in die gemeinsame Wohnung in Langenau.
Obwohl Heinrich Rochlitzer endlich wieder bei seiner Familie war, beendete er am Folgetag sein Leben durch Erhängen. Sein Sohn Hans Rochlitzer gab später an, sein Vater hätte dies getan, „da er sich über den Faschismus nicht mehr hinwegsetzen konnte“. Am 25. März 1938 wurde der Verstorbene auf dem Friedhof in Langenau beigesetzt. Daraufhin lebten die Witwe und ihre sieben Kinder in größter Armut. Anderthalb Jahre später begann der Zweite Weltkrieg (1939–1945). Gerhard Heinrich Rochlitzer, der älteste Sohn, kam bei den erbitterten Kämpfen um Sewastopol (Krim) am 7. Juni 1942 ums Leben.
Milda Rochlitzer bemühte sich Mitte der 1950er-Jahre, von der VdN-Sozialkommission beim Rat des Kreises Brand-Erbisdorf als VdN-Hinterbliebene anerkannt zu werden. Hans Rochlitzer, der bis 1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, wandte sich in dieser Angelegenheit am 19. November 1957 sogar an Otto Grotewohl, den Ministerpräsidenten der DDR.
Text: Dr. Jürgen Nitsche
Zur Person
Nachname: | Rochlitzer |
Vorname: | Heinrich |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 24.11.1896 |
Geburtsort: | Langenau bei Freiberg (heute Ortsteil von Brand-Erbisdorf) |
Sterbedatum: | 22.03.1938 |
Sterbeort: | Langenau bei Freiberg (heute Ortsteil von Brand-Erbisdorf) |
Begräbnisstätte: | Evangelisch-Lutherische Emmauskirchgemeinde Großhartmannsdorf, Friedhof Langenau |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Staatsarchiv Chemnitz, 30413 Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 52136 und 56702 Staatsarchiv Leipzig, 20049 Heil- und Pflegeanstalt Hochweitzschen, Nr. 963 |
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