Hans Russo (*1908)
Der Kesselschmied Hans Russo (auch fälschlich Russow) gehörte zu den wenigen Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenburg, die eine ausländische Staatsbürgerschaft besaßen. Aufgrund fehlender Forschung kann deren genaue Zahl derzeit noch nicht angegeben werden.
Hans Isidor Russo wurde am 30. April 1908 als Sohn des jüdischen Schlossers Isidor Russo und der Zigarrenmacherin Martha Gühler in der Kleinstadt Oederan (heute Landkreis Mittelsachsen) geboren. Die 6 000 Einwohner zählende Stadt, die zwar den Ruf hatte, eine „Weberstadt“ zu sein, erlebte damals eine Blüte der Zigarrenfabrikation. Isidor und Martha Russo hatten sich im Jahr 1894 dort das Ja-Wort gegeben. Isidor Russo, der in Triest das Licht der Welt erblickt hatte, war türkischer Staatsbürger und lebte seit Januar 1890 in Oederan. Seine Ehefrau nannte ihn einen „Spaniolen“, womit die Nachkommen der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden bezeichnet wurden. Die Eheleute hatten insgesamt vier Kinder, die durch die Geburt die türkische Staatsbürgerschaft erhielten. Außer dem Sohn Hans waren dies die Töchter Bianca (*1897), Melitta (1898-1968) und Leoni (*1910). Die Familie wohnte anfangs in der Langen Straße, bevor sie am Markt 1 eine geeignete Wohnung fand. Martha Russo setzte sich frühzeitig für die organisierte Arbeiterbewegung ein. So war sie Mitglied des Vereins „Rote Hilfe“ (RH) und der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH). Außerdem unterstützte sie die Arbeit des Arbeitersamariterbundes (ASB) und der Volksbühne in Oederan.
Hans besuchte von 1914 bis 1922 die Volksschule in Oederan. Bereits mit zehn Jahren trugen er und seine jüngere Schwester Leoni Zeitungen aus, um den Lebensunterhalt der Familie mit zu bestreiten. Da er musikalisch veranlagt war, meldete ihn sein Vater im „Oederaner Knabenmusikchor“, der unter der Leitung des Lagermeisters Max Hempel stand, an. Außerdem trat er dem Arbeiterverein „Freie Turnerschaft“ bei, der vom Zigarrensortierer Fritz Lange ins Leben gerufen worden war. Nach dem Schulabschluss fing Hans Russo eine Lehre als Kesselschmied in der Dampfkesselfabrik Gebrüder Weißbach, Abt. Carl Sulzberger & Co. in Flöha (Karlstraße 4) an. Zugleich trat er in den Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) ein. Nach Abschluss der Lehre wurde er mangels Aufträgen entlassen. Daraufhin stellte ihn die Sächsische Maschinenfabrik, vormals Richard Hartmann, die zu den bedeutendsten Maschinenbauunternehmen im Freistaat gehörte, ein. Auch hier führte jedoch die schlechte Auftragslage zu seiner baldigen Entlassung. Danach folgte er dem Ruf des Industriellen Jørgen Skafte Rasmussen (1878–1964) und ging nach Zschopau, wo er in den Motorenwerken (DKW) arbeitete. Durch erneuten Arbeitsmangel wurde er auch dort entlassen. Fortan war er arbeits- und mittellos.
Im Jahr 1926 gründete Hans Russo den Kinderspielmannszug von Oederan und leitete diesen bis zu seinem Verbot im Jahr 1933. Politisch war er aufgrund seiner türkischen Staatsbürgerschaft nicht organisiert, das heißt er gehörte keiner Partei an. Obwohl es gefährlich war, wie er später in seinem Lebenslauf (1968) schrieb, trat er KPD-nahen Organisationen bei. So war er Mitglied des Roten Frontkämpferbundes (RFB), der RH und der IAH. Außerdem meldete er sich beim ASB an. Damit folgte er dem Beispiel seiner Mutter.
Melitta Russo, seine zweitälteste Schwester, vermählte sich im Jahr 1923 mit dem ungelernten Bauarbeiter Martin Kretzschmar, wodurch sie deutsche Staatsbürgerin wurde. Ihr Ehemann, der zunächst Mitglied der USPD war, trat im Jahr 1924 in die KPD ein. Die Eheleute, die einen Sohn hatten, engagierten sich gemeinsam fortan in einer Reihe KPD-naher Organisationen. Am 1. März 1933 wurde Martin Kretzschmar wegen „unbefugter Verteilung von Druckschriften und Beleidigung“ in „Schutzhaft“ genommen und vom Amtsgericht Oederan zu einer Woche Gefängnis verurteilt. Aus dem Gerichtsgefängnis wurde er umgehend in das benachbarte Konzentrationslager Plaue gebracht und von dort am 13. Juni 1933 in das Konzentrationslager Sachsenburg überführt. 17 Tage später wurde er aus dem Lager entlassen und dem Stadtrat Oederan übergeben.
Da Isidor Russo türkischer Staatsangehöriger war, entging der NSDAP-Ortsgruppe in Oederan zunächst, dass dieser Jude war. Dies sollte sich nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler (1933) rasch ändern. Er wurde immer wieder von den NS-Behörden aufgefordert, Nachweise über seine Abstammung zu erbringen. Er entgegnete daraufhin, dass er keinerlei Papiere besäße und solche auch nicht erlangen könnte. Dies war aber gelogen. Isidor Russo war im Besitz eines Heimatscheines, aus dem hervorging, dass er Sohn türkischer Juden war. Bevor er einst auf Wanderschaft ging, war er Mitglied der Wiener Israelitischen Religionsgemeinde gewesen. Angesichts der abschlägigen Antworten Russos wandte sich der Stadtrat von Oederan am 19. Dezember 1933 an das türkische Konsulat in Berlin, um mehr über dessen Abstammung zu erfahren. Mittlerweile wurde dieser am 1. September 1934 Mitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF). In einem Polizeibericht hieß es daraufhin: „Nach hiesiger Ansicht ist Russo Jude und falls er von zwei jüdischen Elternteilen abstammt, sogar ‚Volljude‘. Sollte dies der Fall sein, dann sind die aus der Ehe Russo-Gühler hervorgegangenen Kinder Halbjuden (Mischlinge 1. Grades) und unterliegen dann auch dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre.“ Der Polizeibeamte betonte daher mit Nachdruck, „dass ein Jude nicht in der Deutschen Arbeitsfront Mitglied sein kann, bitte ich die DAF anzugehen, damit sie sich schriftlich äußert, inwieweit dort die Frage geklärt ist, dass Russo Jude ist.“ Trotz dieser Vermutungen konnte die Polizei keinen Nachweis über sein Judentum erlangen, so dass er längere Zeit von rassischer Verfolgung verschont blieb.
Im Herbst 1935 wurde Hans, Russos Sohn, aufgrund einer Denunziation verdächtigt, „in zwei Fällen öffentlich gehässige und hetzerische Äußerungen über Anordnungen des Staates und die von ihm geschaffenen Einrichtungen gemacht zu haben.“ Was wurde ihm vorgeworfen? „Der Beschuldigte hat am 12. September 1935 gegen Abend auf dem Marktplatz zu Oederan zu Otto Fischer geäußert: ‚Es wird sich schon noch rächen, an die wird es auch noch kommen.‘ Am Abend des gleichen Tages hat er im HJ-Heim zu Angehörigen der HJ zu Oederan geäußert: ‚Je mehr die verhaften, desto aktiver werden die.‘“ Damit stellte er, wie dem am 18. September 1935 erlassenen Haftbefehl zu entnehmen war, die in den Tagen zuvor in Oederan erfolgten Festnahmen ehemaliger Kommunisten durch die Geheime Staatspolizei in Frage. Hans Russos Bemerkung bezog sich in erster Linie auf die erneute Verhaftung seines Schwagers Martin Kretzschmar. Dieser war am 11. September 1935 „wegen illegaler Betätigung“ zusammen mit weiteren Antifaschisten verhaftet worden. Da Hans Russo nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, bestand laut Auffassung der Behörden Fluchtgefahr. Daher wurde er am frühen Morgen des 17. September 1935 in Haft genommen und in das Gerichtsgefängnis in Oederan gebracht. Er hatte lediglich einen Glückspfennig und drei Zigaretten bei sich. Erste strafrechtliche Ermittlungen wurden eingeleitet. Ab dem 28. September 1935 befand er sich in Verwahrungshaft. Nach Abschluss der Ermittlungen verfügte der Präsident des Geheimen Staatspolizeiamtes Sachsen am 12. Oktober 1935, den Verdächtigen aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (§ 1) wegen „staatsfeindlichen Äußerungen“ in „Schutzhaft“ zu nehmen und ihn nach Chemnitz in das Polizeigefängnis zu verlegen. Ein Polizeihauptwachmeister überführte den ausländischen Häftling am Nachmittag des 18. Oktober 1935 dahin. Von dort wurde Hans Russo am 22. Januar 1936 in das Konzentrationslager Sachsenburg überstellt. Die Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze (1935) verschärfte die Lage der Familie Russo mehr und mehr. Melitta Kretzschmar erinnerte sich 1950 in ihrem Lebenslauf: „Mit der Verfolgung der Juden 1935 wurde auch ich, da mein Vater Isidor Russo Jude war, als Halbjüdin benannt und hatte darunter schwer zu leiden.“ Sie wurde in Oederan als „Kommunenweib“ beschimpft. Ihr Bruder Hans erlebte den Rassenwahn auch im Konzentrationslager. Die am 29. Februar 1936 vom Lagerkommandanten erstellte Beurteilung Hans Russos enthielt keinen Text. Möglicherweise lag dies daran, dass sich Martha Russo, seine Mutter, mit einer Beschwerde an den türkischen Konsul gewandt hatte. Hans Russo wurde daraufhin am 11. März 1936 aus dem Konzentrationslager entlassen und musste sich bei der Ortspolizeibehörde in Oederan melden.
Zunächst war er ohne Arbeit, bevor er am 1. Oktober 1936 bei dem Landwirt Kurt Neumann in der Gemeinde Falkenau (heute Stadtteil von Flöha) eine Beschäftigung als Landhelfer fand. Der Bürgermeister von Oederan verfügte daraufhin, dass sich Russo weiterhin zweimal in der Woche auf der Polizeiwache in Falkenau melden musste.
Am 26. August 1936 wurde Martin Kretzschmar, sein Schwager, vom Oberlandesgericht Dresden wegen „gemeinschaftlicher Vorbereitung zum Hochverrat“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt, die er bis zum 12. Dezember 1937 in der Strafvollzugsanstalt Waldheim verbüßte. Die Entlassung bedeutete für ihn aber nicht die Freiheit, sondern am 23. Dezember 1937 die Überführung in das Konzentrationslager Buchenwald.
In der Zwischenzeit gab Isidor Russo die türkische Staatsbürgerschaft auf, um die deutsche zu erwerben. Doch der Wunsch des Vaters ging nicht in Erfüllung. Aus diesem Grunde wurden die Eheleute staatenlos, was auch zwei ihrer Kinder betraf. Leonie hatte sich am 8. Juni 1935 mit einem deutschen Staatsangehörigen vermählt. Im Jahr 1938 erlitt Isidor Russo infolge der Schikanen einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholen sollte. Am 24. Februar 1943 holte ihn seine jüdische Herkunft ein. Er erhielt von den NS-Polizeibehörden einen „Judenpass“. Die Kleiderkarte wurde ihm entzogen. Auch erhielt er keine Lebensmittel-Sonderrationen.
Melitta Kretzschmar, die mittellose Tochter, musste ab September 1944 in einem Rüstungsbetrieb arbeiten, und zwar in der Agricola GmbH, einem Teilbetrieb der Deutschen Kühl- und Kraftmaschinen GmbH. Der Betrieb befand sich in den Räumen der ehemaligen Nähfadenfabrik Erwin Kabis GmbH in Oederan. Damit wurde sie gezwungen, „zwischen den dort [501 – d. Verf.] beschäftigten Judenmädels“, die Häftlinge des Außenkommandos Oederan des KZ Flossenbürg waren, zu arbeiten. Dadurch war die gelernte Zwirnerin „allen Schikanen und Kontrollen der SS-Schurken schutzlos ausgesetzt“, wie sie sich später erinnerte.
Isidor Russo starb am 3. Juli 1946 in Augustusburg. Martha Russo erlitt aufgrund der „seelischen Erregungen und Unterernährung und Lebensmittelkürzung“, wie sie ihrer Tochter Bianca diktierte, am 26. Februar 1949 ebenfalls einen Schlaganfall. Seit dieser Zeit war sie erblindet und bettlägerig und wurde von ihren Töchtern betreut. Martin Kretzschmar, ihr Schwiegersohn, war am 6. Juni 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald nach Oederan zurückgekehrt. Er starb am 16. November 1949 an den Folgen der langjährigen Misshandlungen in Buchenwald.
Hans Russo überstand die Kriegsjahre weitestgehend unbeschadet. Jedoch hatte er seit der Zeit in Sachsenburg einen Sprachfehler, der, wie er später vermerkte, „durch Angst, Schreck und Schläge entstanden“ war. Der Sprachfehler habe ihn später in seinem Auftreten und all seinen Beziehungen behindert. Er lebte weiterhin in Falkenau und war dort zuletzt als Kutscher tätig. Als im April 1944 „jüdische Mischlinge“ auf Anordnung der Geheimen Staatspolizei für die Arbeitsbataillone der „Organisation Todt“ (OT) zwangsverpflichtet wurden, sollte auch Russo in ein Arbeitslager in Nordfrankreich verschickt werden. Er wurde jedoch zurückgestellt. Am 1. Oktober 1945 trat Hans Russo in die KPD ein. Im Jahr 1947 heiratete er Ruth Schaarschmidt, wodurch auch seine Ehefrau staatenlos wurde. Durch die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (1949) wurden die Eheleute Angehörige des neuen Staates. In den Jahren 1949 und 1950 wurden ihnen zwei Söhne geboren: Hans-Jürgen und Harald. Von 1948 bis 1953 war Hans Russo in der Staatlichen Aktiengesellschaft der Buntmetallindustrie Wismut (SAG) mit Sitz in Aue, die ein Jahr zuvor gegründet worden war, beschäftigt. In dieser Zeit wurde er in Bergwerken in Brand-Langenau, Freiberg, Johanngeorgenstadt, Schindelbach und Lauta eingesetzt. Am 1. Juni 1953 zog er in die Gemeinde Scharfenstein, wo er fortan als Beizer im Meisterbereich Beizerei des VEB dkk Scharfenstein tätig war. Am 6. Mai 1958 starb seine Mutter nach langer Krankheit in Oederan. Sie fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Oederan. Zehn Jahre später, am 24. April 1968, starb auch seine Schwester Melitta, die bis zu ihrem Tod anerkannte Verfolgte des Naziregimes (VdN) und Hinterbliebene eines VdN war.
Am 31. Januar 1969 stellte auch Hans Russo beim Rat des Kreises Zschopau einen Antrag auf Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes. Die VdN-Kommission des Kreises Zschopau lehnte diesen jedoch mangels Voraussetzungen drei Tage später ab. Die Mindesthaftstrafe von 18 Monaten konnte der Antragsteller nicht nachweisen. Obwohl sich der Betrieb für ihn einsetzte, wurde sein Einspruch gegen die Ablehnung am 8. Mai 1969 auch von der VdN-Bezirkskommission in Karl-Marx-Stadt abgewiesen. Hans Russo wohnte damals in Scharfenstein, Karl-Liebknecht-Straße 95. Nach dem Tod seiner Ehefrau ging er eine weitere Ehe ein. Sein Todesdatum ist nicht bekannt.
Text: Dr. Jürgen Nitsche
Zur Person
Nachname: | Russo |
Vatersname: | Isidor |
Vorname: | Hans |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 30.04.1908 |
Geburtsort: | Oederan |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Staatsarchiv Chemnitz, 30413 Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 52078, 53273, 53775.
Staatsarchiv Chemnitz, 30071 Zuchthaus Zwickau, Nr. 12956.
Staatsarchiv Chemnitz, 30127 Amtsgericht Oederan, Nr. 1307.
Werner Ulbricht, Die Rolle der Juden in Oederan, in: Michael Düsing (Hg.), Glück Auf, mein Freiberg! Erinnerungen und Lebensschicksale jüdischer Bürger in den sächsischen Bergstädten Freiberg und Oederan (Jüdisches Leben in der Bergstadt Freiberg – eine Spurensuche, Teil 2), Freiberg 1995.
Pascal Cziborra, KZ Oederan. Verlorene Jugend, in: Die Außenlager des KZ Flossenbürg, Bd. 5, Bielefeld 2008.
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