Curt Lieberwirth (1894–1957)
Der Gießereiarbeiter Curt Lieberwirth gehörte zu den Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenburg, die am 9. März 1937 im Rahmen der reichsweiten Razzia der Kriminalpolizei gegen „Berufsverbrecher“ in „vorbeugende Polizeihaft“ genommen worden waren. Diese Aktion war Teil einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ der Nationalsozialisten. Die Idee, Wiederholungtäter bereits vor einer möglichen nächsten Straftat zu verhaften, kam bereits in der Weimarer Republik auf und wurde durch die Nationalsozialisten aufgegriffen und durch konkrete Maßnahmen sowie eine lückenlose Verfolgung in die Praxis umgesetzt.
Die Dienststellen der Kriminalpolizei waren am 27. Januar 1937 angewiesen worden, all jene Personen in Listen zu erfassen, die als „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ oder als „gewohnheitsmäßige Sittlichkeitsverbrecher“ anzusehen waren. Als Einweisungslager wurden neben den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Lichtenburg, Dachau und dem Frauenlager Moringen auch Sachsenburg benannt. Die Gesamtzahl der im März 1937 verhafteten Personen ist nicht überliefert. Ob es tatsächlich 2 000 waren, wie von SS-Reichsführer Himmler gefordert, kann nur vermutet werden. Allein in Thüringen wurden 54 Männer verhaftet, von denen 53 nach Sachsenburg kamen. Ein Jude wurde nach Dachau gebracht. Die jüdischen „Berufsverbrecher“ sollten ausschließlich in dieses „Musterlager“ in Bayern überstellt werden, was mit der generellen Konzentration jüdischer KZ-Häftlinge seit Februar 1937 im Zusammenhang stand.
Die Dienststellen der Kriminalpolizei waren am 27. Januar 1937 angewiesen worden, all jene Personen in Listen zu erfassen, die als „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ oder als „gewohnheitsmäßige Sittlichkeitsverbrecher“ anzusehen waren. Als Einweisungslager wurden neben den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Lichtenburg, Dachau und dem Frauenlager Moringen auch Sachsenburg benannt. Die Gesamtzahl der im März 1937 verhafteten Personen ist nicht überliefert. Ob es tatsächlich 2 000 waren, wie von SS-Reichsführer Himmler gefordert, kann nur vermutet werden. Allein in Thüringen wurden 54 Männer verhaftet, von denen 53 nach Sachsenburg kamen. Ein Jude wurde nach Dachau gebracht. Die jüdischen „Berufsverbrecher“ sollten ausschließlich in dieses „Musterlager“ in Bayern überstellt werden, was mit der generellen Konzentration jüdischer KZ-Häftlinge seit Februar 1937 im Zusammenhang stand.
Wie viele Häftlinge sich seit März 1937 in Sachsenburg in „Vorbeugungshaft“ befanden, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Allein am 11. März 1937 waren laut den „Deutschland-Berichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschland“ (SOPADE) 600 neue Häftlinge aus dem Rheinland und aus dem Konzentrationslager Lichtenburg nach Sachsenburg überstellt worden. Zwei Züge wären an jenem Abend auf dem Frankenberger Bahnhof eingelaufen. Möglicherweise waren es sogar 730 Häftlinge, von denen 484 bei der Auflösung des Lagers Sachsenburg nach Sachsenhausen überführt wurden.
Die Häftlinge, die im Lager einen „grünen Winkel“ an ihrer Kleidung tragen mussten, wurden sowohl von den anderen Gefangenen als auch von der Gesellschaft nach 1945 aufgrund ihrer Inhaftierung als „Berufsverbrecher“ stigmatisiert. Erst im Februar 2020 wurden sie zusammen mit der Häftlingsgruppe der „Asozialen“ vom Deutschen Bundestag als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.
Aufgrund dieser späten Würdigung sind bis heute kaum Biografien von als „Berufsverbrecher“ verhafteten Menschen erforscht. Dies steht in engem Zusammenhang mit der lückenhaften Quellenlage und den kaum vorliegenden eigenen Erinnerungsberichten. Ihr Schicksal kann deshalb oft nur aus den behördlichen Akten heraus erschlossen werden. Dokumente aus der Betroffenen-Perspektive fehlen häufig. Welche persönlichen Schicksale verbergen sich hinter dieser wirkmächtigen Kategorie? Wie gerieten die Menschen in den Fokus des Verfolgungsapparates? Was bedeutete dies für ihr persönliches Leben und wie verarbeiteten sie die oftmals lange Haft und ihre Folgen? Das Lebensbild von Lieberwirth zeigt mögliche Antworten auf diese Frage auf.
Ernst Curt Richard Lieberwirth wurde am 20. Juli 1894 als Sohn eines Eisenbohrers in Chemnitz geboren. Seine Eltern waren Bruno Paul Lieberwirth (1867-1929) und Anna Thekla Hezel (1869-1951), die ihn in protestantischer Tradition erzogen. Mit Dora hatte er noch eine Schwester. Die Familie wechselte anfangs fast jährlich den Wohnsitz (u. a. Lerchenstraße 11 und Matthestraße 14), bevor sie im IV. Obergeschoss des Hauses Limbacher Straße 23 dauerhaft eine Unterkunft fand. Sein Vater starb am 22. Februar 1929 infolge Asthmas in Rabenstein.
Ernst Curt Richard Lieberwirth wurde am 20. Juli 1894 als Sohn eines Eisenbohrers in Chemnitz geboren. Seine Eltern waren Bruno Paul Lieberwirth (1867-1929) und Anna Thekla Hezel (1869-1951), die ihn in protestantischer Tradition erzogen. Mit Dora hatte er noch eine Schwester. Die Familie wechselte anfangs fast jährlich den Wohnsitz (u. a. Lerchenstraße 11 und Matthestraße 14), bevor sie im IV. Obergeschoss des Hauses Limbacher Straße 23 dauerhaft eine Unterkunft fand. Sein Vater starb am 22. Februar 1929 infolge Asthmas in Rabenstein.
Zu seinem Leben können nur sehr wenige Angaben gemacht werden. Von 1901 bis 1909 besuchte er in Chemnitz zunächst die Charlottenschule, bevor er auf die Waisenschule wechselte. Die Leistungen wurden eher als „mangelhaft“ bewertet. Er erlernte den Beruf eines Gießereiarbeiters. Von 1916 bis 1918 gehörte er zu den Weltkriegsteilnehmern. Er war Angehöriger der Infanterie-Regimenter 101 und 111. Während der Kämpfe wurde er 1916 durch einen Granatsplitter verwundet und gegen Kriegsende 1918 verschüttet. Dafür erhielt er das „Verwundetenabzeichen in Schwarz“. Wegen der Verwundungen befand er sich ein Vierteljahr im Lazarett und litt in der Folgezeit an chronischen Schwindelanfällen.
Lieberwirth gab seinen Beruf auf und arbeitete in den Folgejahren als Handarbeiter in verschiedenen Gärtnereien in Chemnitz. Das familiäre Glück fand er in diesen Jahren nicht. Seine erste Ehefrau starb nach wenigen Jahren. Mit der zweiten Ehefrau hatte er einen Sohn, der nach der Scheidung bei seiner Mutter lebte. Seit dem 18. September 1933 war er mit der um vier Jahre jüngeren Hausangestellten Klara Alma Haubold verheiratet. Mit seiner dritten Ehefrau wohnte er fortan bei seiner verwitweten Mutter im Haus Limbacher Straße 23.
Curt Lieberwirth lebte weiterhin bei seiner Mutter, als er am 9. März 1937 auf Veranlassung der Kriminalpolizeistelle Chemnitz in „Vorbeugungshaft“ genommen wurde. Was war der Grund dafür? In den Jahren 1923, 1925, 1929 und 1934 war Lieberwirth vom Land- bzw. Schöffengericht Chemnitz wegen Sittlichkeitsverbrechen (§ 176 Abs. 3 StGB) zu insgesamt 30 Monaten (6 Mo., 10 Mo., 12 Mo. und 18 Mo.) und drei Jahren Ehrverlust verurteilt worden. Trotz Vorstrafen verging er sich wiederholt an minderjährigen Kindern in Parkanlagen oder in Gartenkolonien. Die erste Strafe verbüßte er in den Vereinigten Gefangenenanstalten Bautzen. Ab dem 13. September 1929 befand er sich zur Strafverbüßung jeweils in der Landesgefangenenanstalt Hoheneck bei Stollberg. Aufgrund seiner Kriegsverletzungen konnte er dort nicht jede Arbeit verrichten.
Die Justizbehörden stuften Lieberwirth selbst nach dem letzten Übergriff auf zwei Halbgeschwister am Chemnitzer Schlossteich nicht als „gefährlichen Sittlichkeitsverbrecher“ ein. Gerichtsmedizinalrat Dr. Rudolf Hänsel bescheinigte dem Angeklagten in dem gerichtsärztlichen Gutachten vom 12. Juni 1934 zwar lediglich „Schwachsinn mittleren Grades“, hielt aber eine Entmannung für durchaus denkbar. Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entmannung gemäß § 42a Ziffer 5, § 42 StGB wurde dennoch von der Strafkammer unter Vorsitz des Landgerichtsrates Fritz Hertel abgelehnt. Eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt kam für die Kammer ebenfalls nicht in Frage. Im Frühjahr 1935 stellte die Direktion der Gefangenenanstalt Hoheneck den Antrag auf Unfruchtbarmachung wegen „Schwachsinns“. Die Ehefrau wandte sich daraufhin mit einem Gnadengesuch an den Direktor Rudolf Glauning, für den Lieberwirth aber „nicht gnadenwürdig“ war. Das Erbgesundheitsgericht Chemnitz, das unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsrates Dr. Ernst Meusel stand, fasste am 12. Juni 1935 einstimmig den Beschluss, Lieberwirth zwangssterilisieren zu lassen. In der Folgezeit setzte die Ehefrau all ihre Kraft ein, um diesen Beschluss rückgängig machen zu lassen. Sie legte Beschwerde ein, die aber auch vom Erbgesundheitsgericht in Dresden am 23. April 1936 zurückgewiesen wurde. Sie verlangte eine Wiederaufnahme des Verfahrens, die aber auch am 28. Januar 1937 verworfen wurde.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Curt Lieberwirth nicht mehr in der Strafanstalt. Er war am 5. Mai 1936 entlassen worden und lebte inzwischen wieder bei seiner Mutter. Seine Ehefrau hielt weiterhin zu ihm. Nicht einmal ein Dreivierteljahr befand er sich in Freiheit, als er am 9. März 1937 auf Anordnung der Kriminalpolizei mit weiteren Männern in Polizeihaft genommen wurde. Am 16. März 1937 erfolgte seine Einweisung in das Konzentrationslager Sachsenburg. Am Folgetag fand die vorgeschriebene Häftlingsuntersuchung statt, die der SS-Standortarzt Baader vornahm. Über die Haftzeit in Sachsenburg liegen keine weiteren Angaben vor.
Lieberwirth gehörte zu den Häftlingen, die am Nachmittag des 21. August 1937 mit einem Sammeltransport in das Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt wurden. Von dort wurde er mit weiteren Häftlingen in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Lieberwirth erhielt die Häftlings-Nummer 1933. Ab dem 13. September 1937 wurde er vorübergehend im Krankenhaus Weimar behandelt.
Am 9. April 1938 stand erstmals die Frage der Entlassung des Chemnitzer Vorbeugungshäftlings auf der Tagesordnung. Um darüber zu entscheiden, wurden in bestimmten Zeitabständen Beurteilungen der Häftlinge angefertigt. Darin wurden Aussagen über ihr politisches Verhalten und ihre Arbeitsmoral gemacht. Die Einschätzungen, auch „Führungsberichte“ genannt, sollten den Anschein vermitteln, dass es sich bei den Konzentrationslagern um Umerziehungslager handele.
Der Lagerkommandant lehnte Lieberwirths Entlassung jedoch am 17. April 1938 gegenüber dem Reichskriminalpolizeiamt kategorisch ab: „Die Führung und Arbeitsleistungen des L. im Lager sind nicht zufriedenstellend. Nur unter strenger Aufsicht erledigt er die ihm übertragenen Arbeiten und wird sofort faul und träge, wenn er sich unbeobachtet glaubt. Die bisherige Vorbeugehaft hat auf L. nicht den geringsten Eindruck gemacht, und es muss unbedingt angenommen werden, dass er nach einer vorzeitigen Entlassung erneut rückfällig wird und somit auch weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedeutet.“
Am 27. April 1938 gab Lieberwirth den Trauring ab, was vermutlich mit einem bevorstehenden „medizinischen Eingriff“ außerhalb des Lagers zusammenhing. Das Erbgesundheitsgericht Weimar hatte aufgrund der wiederholten Sittlichkeitsvergehen am 28. April 1938 seine Entmannung verfügt, was damals gängiger Praxis in den Konzentrationslagern entsprach. Angeblich hätte Lieberwirth dazu „seine freiwillige Zustimmung“ gegeben, was zu bezweifeln ist. Die Zwangskastration wurde am 5. Mai 1938 im städtischen Krankenhaus in Weimar ausgeführt. Damit gehörte Lieberwirth zu der Gruppe von Häftlingen, die drei Monate nach der Entmannung entlassen werden konnten. Der SS-Standortarzt Dr. Werner Kirchert, der eine Zeit lang Lagerarzt in Sachsenburg war, hatte daher den Lagerkommandanten am 13. Juni 1938 ersucht, Lieberwirth am 6. August 1938 zu entlassen. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Dennoch rettete ihm die Zwangskastration möglicherweise das Leben.
Lieberwirth wurde am 4. November 1938 in das Konzentrationslager Flossenbürg überführt. Dort stand am 28. März 1939 die Frage der Entlassung erneut auf der Tagesordnung. In der Beurteilung vom 10. Mai 1939 hieß es dieses Mal: „Seit dem letzten Führungsbericht vom 17. April 1938 hat sich das Gesamtverhalten des L. gebessert. Er verrichtet willig und fleißig die ihm übertragene Arbeit. Es besteht hier der Eindruck, dass L. in der Volksgemeinschaft noch ein brauchbarer Arbeiter wird. […] Gegen eine Entlassung bestehen hier keine Bedenken.“ Das Reichskriminalamt verfügte daher am 3. Juli 1939 die Entlassung Lieberwirths aus der polizeilichen Vorbeugungshaft. Vier Tage später wurde er nach Chemnitz entlassen, nachdem er zuvor die obligatorische Erklärung unterzeichnet hatte, in der es im Punkt 1 hieß: „Ich werde mich nie gegen den nationalsozialistischen Staat oder seine Einrichtungen, weder in Rede noch in Schrift, wenden“.
Damit wurde Lieberwirth aus dem Lager entlassen, bevor im Februar 1940 die „Aktion T4“ begann. Im Rahmen dieser Aktion wurde eine Vielzahl von „Sittlichkeitsverbrechern“ aus Konzentrationslagern in die Krankenmordanstalten wie Brandenburg, Bernburg oder Pirna-Sonnenstein überführt und dort getötet.
Lieberwirth gab seinen Beruf auf und arbeitete in den Folgejahren als Handarbeiter in verschiedenen Gärtnereien in Chemnitz. Das familiäre Glück fand er in diesen Jahren nicht. Seine erste Ehefrau starb nach wenigen Jahren. Mit der zweiten Ehefrau hatte er einen Sohn, der nach der Scheidung bei seiner Mutter lebte. Seit dem 18. September 1933 war er mit der um vier Jahre jüngeren Hausangestellten Klara Alma Haubold verheiratet. Mit seiner dritten Ehefrau wohnte er fortan bei seiner verwitweten Mutter im Haus Limbacher Straße 23.
Curt Lieberwirth lebte weiterhin bei seiner Mutter, als er am 9. März 1937 auf Veranlassung der Kriminalpolizeistelle Chemnitz in „Vorbeugungshaft“ genommen wurde. Was war der Grund dafür? In den Jahren 1923, 1925, 1929 und 1934 war Lieberwirth vom Land- bzw. Schöffengericht Chemnitz wegen Sittlichkeitsverbrechen (§ 176 Abs. 3 StGB) zu insgesamt 30 Monaten (6 Mo., 10 Mo., 12 Mo. und 18 Mo.) und drei Jahren Ehrverlust verurteilt worden. Trotz Vorstrafen verging er sich wiederholt an minderjährigen Kindern in Parkanlagen oder in Gartenkolonien. Die erste Strafe verbüßte er in den Vereinigten Gefangenenanstalten Bautzen. Ab dem 13. September 1929 befand er sich zur Strafverbüßung jeweils in der Landesgefangenenanstalt Hoheneck bei Stollberg. Aufgrund seiner Kriegsverletzungen konnte er dort nicht jede Arbeit verrichten.
Die Justizbehörden stuften Lieberwirth selbst nach dem letzten Übergriff auf zwei Halbgeschwister am Chemnitzer Schlossteich nicht als „gefährlichen Sittlichkeitsverbrecher“ ein. Gerichtsmedizinalrat Dr. Rudolf Hänsel bescheinigte dem Angeklagten in dem gerichtsärztlichen Gutachten vom 12. Juni 1934 zwar lediglich „Schwachsinn mittleren Grades“, hielt aber eine Entmannung für durchaus denkbar. Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entmannung gemäß § 42a Ziffer 5, § 42 StGB wurde dennoch von der Strafkammer unter Vorsitz des Landgerichtsrates Fritz Hertel abgelehnt. Eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt kam für die Kammer ebenfalls nicht in Frage. Im Frühjahr 1935 stellte die Direktion der Gefangenenanstalt Hoheneck den Antrag auf Unfruchtbarmachung wegen „Schwachsinns“. Die Ehefrau wandte sich daraufhin mit einem Gnadengesuch an den Direktor Rudolf Glauning, für den Lieberwirth aber „nicht gnadenwürdig“ war. Das Erbgesundheitsgericht Chemnitz, das unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsrates Dr. Ernst Meusel stand, fasste am 12. Juni 1935 einstimmig den Beschluss, Lieberwirth zwangssterilisieren zu lassen. In der Folgezeit setzte die Ehefrau all ihre Kraft ein, um diesen Beschluss rückgängig machen zu lassen. Sie legte Beschwerde ein, die aber auch vom Erbgesundheitsgericht in Dresden am 23. April 1936 zurückgewiesen wurde. Sie verlangte eine Wiederaufnahme des Verfahrens, die aber auch am 28. Januar 1937 verworfen wurde.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Curt Lieberwirth nicht mehr in der Strafanstalt. Er war am 5. Mai 1936 entlassen worden und lebte inzwischen wieder bei seiner Mutter. Seine Ehefrau hielt weiterhin zu ihm. Nicht einmal ein Dreivierteljahr befand er sich in Freiheit, als er am 9. März 1937 auf Anordnung der Kriminalpolizei mit weiteren Männern in Polizeihaft genommen wurde. Am 16. März 1937 erfolgte seine Einweisung in das Konzentrationslager Sachsenburg. Am Folgetag fand die vorgeschriebene Häftlingsuntersuchung statt, die der SS-Standortarzt Baader vornahm. Über die Haftzeit in Sachsenburg liegen keine weiteren Angaben vor.
Lieberwirth gehörte zu den Häftlingen, die am Nachmittag des 21. August 1937 mit einem Sammeltransport in das Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt wurden. Von dort wurde er mit weiteren Häftlingen in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Lieberwirth erhielt die Häftlings-Nummer 1933. Ab dem 13. September 1937 wurde er vorübergehend im Krankenhaus Weimar behandelt.
Am 9. April 1938 stand erstmals die Frage der Entlassung des Chemnitzer Vorbeugungshäftlings auf der Tagesordnung. Um darüber zu entscheiden, wurden in bestimmten Zeitabständen Beurteilungen der Häftlinge angefertigt. Darin wurden Aussagen über ihr politisches Verhalten und ihre Arbeitsmoral gemacht. Die Einschätzungen, auch „Führungsberichte“ genannt, sollten den Anschein vermitteln, dass es sich bei den Konzentrationslagern um Umerziehungslager handele.
Der Lagerkommandant lehnte Lieberwirths Entlassung jedoch am 17. April 1938 gegenüber dem Reichskriminalpolizeiamt kategorisch ab: „Die Führung und Arbeitsleistungen des L. im Lager sind nicht zufriedenstellend. Nur unter strenger Aufsicht erledigt er die ihm übertragenen Arbeiten und wird sofort faul und träge, wenn er sich unbeobachtet glaubt. Die bisherige Vorbeugehaft hat auf L. nicht den geringsten Eindruck gemacht, und es muss unbedingt angenommen werden, dass er nach einer vorzeitigen Entlassung erneut rückfällig wird und somit auch weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedeutet.“
Am 27. April 1938 gab Lieberwirth den Trauring ab, was vermutlich mit einem bevorstehenden „medizinischen Eingriff“ außerhalb des Lagers zusammenhing. Das Erbgesundheitsgericht Weimar hatte aufgrund der wiederholten Sittlichkeitsvergehen am 28. April 1938 seine Entmannung verfügt, was damals gängiger Praxis in den Konzentrationslagern entsprach. Angeblich hätte Lieberwirth dazu „seine freiwillige Zustimmung“ gegeben, was zu bezweifeln ist. Die Zwangskastration wurde am 5. Mai 1938 im städtischen Krankenhaus in Weimar ausgeführt. Damit gehörte Lieberwirth zu der Gruppe von Häftlingen, die drei Monate nach der Entmannung entlassen werden konnten. Der SS-Standortarzt Dr. Werner Kirchert, der eine Zeit lang Lagerarzt in Sachsenburg war, hatte daher den Lagerkommandanten am 13. Juni 1938 ersucht, Lieberwirth am 6. August 1938 zu entlassen. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Dennoch rettete ihm die Zwangskastration möglicherweise das Leben.
Lieberwirth wurde am 4. November 1938 in das Konzentrationslager Flossenbürg überführt. Dort stand am 28. März 1939 die Frage der Entlassung erneut auf der Tagesordnung. In der Beurteilung vom 10. Mai 1939 hieß es dieses Mal: „Seit dem letzten Führungsbericht vom 17. April 1938 hat sich das Gesamtverhalten des L. gebessert. Er verrichtet willig und fleißig die ihm übertragene Arbeit. Es besteht hier der Eindruck, dass L. in der Volksgemeinschaft noch ein brauchbarer Arbeiter wird. […] Gegen eine Entlassung bestehen hier keine Bedenken.“ Das Reichskriminalamt verfügte daher am 3. Juli 1939 die Entlassung Lieberwirths aus der polizeilichen Vorbeugungshaft. Vier Tage später wurde er nach Chemnitz entlassen, nachdem er zuvor die obligatorische Erklärung unterzeichnet hatte, in der es im Punkt 1 hieß: „Ich werde mich nie gegen den nationalsozialistischen Staat oder seine Einrichtungen, weder in Rede noch in Schrift, wenden“.
Damit wurde Lieberwirth aus dem Lager entlassen, bevor im Februar 1940 die „Aktion T4“ begann. Im Rahmen dieser Aktion wurde eine Vielzahl von „Sittlichkeitsverbrechern“ aus Konzentrationslagern in die Krankenmordanstalten wie Brandenburg, Bernburg oder Pirna-Sonnenstein überführt und dort getötet.
Lieberwirth lebte bis zu seinem Tod weiterhin in Chemnitz. Zuletzt wohnte er im Haus Ferdinandstraße 29. Eine Anerkennung als „Verfolgter des Naziregimes“ kam für ihn aufgrund seines Inhaftierungsgrundes nicht in Frage. Seine Mutter starb am 26. Februar 1951 in Chemnitz. Curt Lieberwirth verstarb am 17. September 1957 im Stadtkrankenhaus Küchwald in Karl-Marx-Stadt, wie seine Geburtsstadt seit 1953 hieß. Seine sterblichen Überreste wurden drei Tage später im Krematorium eingeäschert und im Urnengemeinschaftsgrab 10 des Städtischen Friedhofes an der Reichenhainer Straße beigesetzt.
Text: Dr. Jürgen Nitsche
Zur Person
Nachname: | Lieberwirth |
Vorname: | Curt |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 20.07.1894 |
Geburtsort: | Chemnitz |
Sterbedatum: | 17.09.1957 |
Sterbeort: | Karl-Marx-Stadt |
Letzter frei gewählter Wohnort: | Chemnitz |
Begräbnisstätte: | Städtischer Friedhof in Karl-Marx-Stadt, Urnengemeinschaftsgrab 10 |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Staatsarchiv Chemnitz, 30068 Gefangenenanstalt Hoheneck, Nr. 4515.
Sven Langhammer, Die reichsweite Verhaftungsaktion vom 9. März 1937 – eine Maßnahme zur „Säuberung des Volkskörpers“, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, 2007/1 (Heft 17), S. 55-77.
Julia Hörath, Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017.
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