Hans Haferkorn (1910–1999)
Im Sommer 2015 stieß die Hamburgerin im Rahmen ihrer Familienforschung zufällig auf eine Website der Dokumentationsstelle über verurteilte und rehabilitierte Deutsche. Zu ihrer Überraschung fand sie dort den Namen ihres Großvaters Dr. Hans Richard Haferkorn (geb. 1910 in Harthau bei Chemnitz) aufgelistet. Zeit seines Lebens, er starb 1999, konnte sie mit ihm jedoch nicht über die Geschehnisse während seiner langen Kriegsgefangenschaft sprechen, denn das Thema blieb in der Familie tabu. Sie wusste zwar inzwischen, dass er nach der Gefangennahme am 8. Mai 1945 bis zur Entlassung zum Jahreswechsel 1953/1954 zahlreiche sowjetische Gefangenenlager durchlaufen hatte, doch warum war er überhaupt verurteilt worden?
Wenige Tage nach ihrer E-Mail-Anfrage an die Dokumentationsstelle hielt sie den Bescheid über die Rehabilitierung ihres Großvaters in den Händen. Seine Verurteilung war bereits im Jahre 2003 „von Amts wegen“ durch die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation überprüft worden, das heißt ohne einen Antrag von Familienangehörigen oder anderen Personen. Durch die Rehabilitierung wurde die Einsicht in die Ermittlungsakte möglich, doch gestaltete sich der Zugang schwierig.
Auf Anfrage erhielt die Dokumentationsstelle zunächst die Mitteilung, dass sich die Akte nicht im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation (FSB, Nachfolgebehörde des KGB) befände. Dies machte eine Rückfrage nach dem Aufbewahrungsort der Akte bei der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft notwendig. Einige Monate später traf schließlich von dort der Hinweis ein, dass die Akte im Zentralarchiv des Innenministeriums der Russischen Föderation (MWD) aufbewahrt werde. Doch dauerte es nochmals fast ein Jahr, bis die Zugangsmöglichkeit zur Akte über das „Zentrum der Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ im Hauptinformations-Analysezentrum (GIAZ) des MWD geklärt werden konnte. Mit tatkräftiger Unterstützung des Konsulats der Deutschen Botschaft in Moskau, das kurzfristig erforderliche Beglaubigungen erteilte und persönliche Kontakte nutzte, gelang schließlich am 8. März 2018 die Einsichtnahme in die Akte.
Durch diese sowie durch über den DRK-Suchdienst gefundene Unterlagen und durch ein aufgetauchtes Reisetagebuch von Hans Haferkorn gelang die Rekonstruktion seiner Lebensjahre in und nach dem Krieg. Der bei den „Chemnitzer Neuesten Nachrichten“ tätige Journalist hatte von Oktober 1941 bis Kriegsende – zunächst als Gefreiter, später als Unteroffizier – im Stab der in Chemnitz aufgestellten 24. Infanteriedivision gedient. Mit der Division nahm er am Feldzug gegen die Sowjetunion teil und geriet nach Kriegsende im Kurland in sowjetische Gefangenschaft. Am 28. April 1949 wurde er „verhaftet“ und anschließend in mehr als sieben Verhören über seine Tätigkeit als Schreiber beim 3. Generalstabsoffizier („Ic“) befragt. Im Rahmen dieses Dienstes war er mit der sogenannten Feindaufklärung befasst, zum Beispiel mit Berichten von Aufklärungseinheiten der Wehrmacht im Hinterland der Roten Armee oder mit Berichten von Befragungen sowjetischer Kriegsgefangener und Überläufer. Er legte diese Berichte dem Generalstabsoffizier vor, leitete sie an verschiedene Teile der Division weiter und archivierte sie. Dies wurde ihm nun als „konterrevolutionäres Verbrechen“ angelastet. Schon am 5. September 1949 verurteilte ihn ein Militärtribunal der Truppen des MWD des Leningrader Bezirks auf der Grundlage der Artikel 58-4 („Unterstützung der internationalen Bourgeoisie“) und 58-6 („Spionage“) des Strafgesetzbuches der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager. Es ging dabei zu keinem Zeitpunkt um eine mögliche Beteiligung an Kriegsverbrechen. Hans Haferkorn gehört damit zur Gruppe der fast 30 000 kriegsgefangenen Soldaten und Offiziere der Deutschen Wehrmacht, die erst mehrere Jahre nach ihrer Gefangennahme im Rahmen einer regelrechten „Kampagne“ vor sowjetischen Militärgerichten standen und verurteilt wurden, um sie als „Faustpfand im Kalten Krieg“ – so der Historiker Andreas Hilger – nutzen zu können. Erst am Abend des 17. Dezember 1953 erhielt Hans Haferkorn die Mitteilung über seine bevorstehende Entlassung. Am 2. Januar 1954 kam er im Lager Friedland an, nachdem er mit dem Zug - gewissermaßen an Frau und Kindern in Chemnitz vorbei - durch die sowjetisch besetzte Zone direkt in den Westen gefahren war. Seine Familie holte er im Frühjahr 1954 nach Wiesbaden nach. Heimatlichen Boden betrat er erst nach der Grenzöffnung 1989 wieder.
Die Akteneinsicht erweiterte das Bild von der Kriegsgefangenschaft ihres Großvaters, das Karin Haferkorn bereits durch die Auskunft des DRK-Suchdienstes und durch Tagebuchaufzeichnungen von Hans Haferkorn gewonnen hatte, in einem wesentlichen Punkt, der Verurteilung. Diese hatte den weiteren Lebensweg ihres Großvaters ganz sicher geprägt, waren doch nicht wenige Soldaten sogar zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Auch wusste sie zwar, dass er Mitglied der NSDAP gewesen war, aber von seiner Zugehörigkeit zur SA erfuhr sie erst durch die Verhörprotokolle. Nicht zuletzt war sie auch beruhigt, dass ihr Großvater nicht persönlich in Kriegsverbrechen verstrickt gewesen war. Von besonderem Wert waren die zusätzlichen Dokumente aus der Akte, insbesondere Kopien von Vernehmungsfotos, einem Verhör und dem Standardfragebogen. Interessanterweise lagen die meisten Dokumente sogar in zeitgenössischer deutscher Übersetzung in der Akte vor. Eine Kopie des Urteils wurde leider nicht ausgefertigt, da Hans Haferkorn gemeinsam mit Mitgefangenen verurteilt wurde, deren Namen und Daten nicht eingesehen werden durften.
Für Karin Haferkorn hat sich die Akteneinsicht gelohnt: „Ich staune immer wieder, was es in den Archiven noch an Dokumenten zu finden gibt. Durch die Akteneinsicht in Moskau konnte ich ein besonderes und bislang unbekanntes Kapitel meiner Familiengeschichte erhellen und manche Strukturen innerhalb der Familie als Kriegsenkelin besser verstehen lernen. Für die Unterstützung der Dokumentationsstelle Dresden dabei bin ich sehr dankbar.“
Zur Person
Nachname: | Haferkorn |
Vorname: | Dr. Hans |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 06.12.1910 |
Geburtsort: | Harthau/Chemnitz |
Sterbedatum: | 27.03.1999 |
Sterbeort: | Kronberg im Taunus |
Ergänzungen
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