Georg Haarmann (1909–1953)
Seit 1948 war Georg Haarmann für seine Tochter Ursula S. wie vom Erdboden verschluckt. 1946 mit einem Splitter im Kopf aus dem Krieg heimgekehrt, hatte er noch bis zum Herbst 1948 ihr Zeugnis unterschrieben. Obwohl die Eltern bereits geschieden waren, kümmerte sich Georg Haarmann stets liebevoll um seine drei Kinder. Schließlich siedelte er – wohl um Arbeit zu finden – in die damalige sowjetische Besatzungszone über. Dort war er zuletzt als Oberingenieur in einer Aufbereitungsanlage für Uranerz der Wismut AG in Saalfeld beschäftigt.
Nach dem Tode ihrer Mutter fand Ursula S. einen Brief aus dem Jahre 1951 an sie, in dem sich Georg Haarmann nach seinen drei Kindern erkundigte und sein langes Schweigen damit begründete, dass er durch seine Kriegsverletzung sehr lange krank gewesen sei. Da er in dem Brief Schwarzenberg als Wohnort angab, wandte sich Frau S. an das Kreisarchiv Aue mit der Bitte um Auskunft über den Verbleib ihres Vaters. Von dort erhielt sie die Mitteilung, dass er verzogen sei, so schrieb sie an das Kreisarchiv Saalfeld-Rudolstadt. Dieses teilte ihr schließlich mit, dass er am 3. Januar 1955 in der Sowjetunion verstorben sei.
Als (West)Berlinerin, die den Kalten Krieg hautnah miterlebt hatte, machte diese Formulierung Ursula S. hellhörig. Sie gab den Namen ihres Vaters in eine Internet-Suchmaschine ein und fand ihn auf einer Seite des Forschungsinstituts „Facts & Files“, die zwischen 1950 und 1953 in Moskau erschossene Deutsche listete, verzeichnet. Nach so langer Zeit endlich etwas über den vermissten Vater zu lesen und dabei erfahren zu müssen, dass sein Leben ein so schreckliches Ende gefunden hatte, war für sie und ihren Bruder – die ältere Schwester war bereits verstorben – ein Schock. Nachdem der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) in seiner TV-Dokumentation „Spur der Ahnen“ am 8. Juni 2016 über einen ähnlichen Fall berichtet hatte, wandte sich Frau S. an die Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam, die in der Sendung erwähnt worden war. Die Gedenkstätte wies sie auf die Möglichkeit der Akteneinsicht durch die Dokumentationsstelle hin, und so schrieb sie im Sommer 2016 nach Dresden. Von dort erhielt sie zunächst die Bescheinigung der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation über die Rehabilitierung ihres Vaters, die noch einmal die inzwischen bekannten Verfolgungsdaten schwarz auf weiß bestätigten. Anschließend bevollmächtigte Frau S. die Dokumentationsstelle mit der Akteneinsicht, denn sie hoffte, dass in der Akte möglicherweise persönlicher Schriftverkehr, ein Foto oder andere persönliche Dinge zu finden seien.
Bei der Akteneinsicht im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation (FSB) im März 2017 stellte sich heraus, dass Georg Haarmann zusammen mit vier anderen verurteilt worden war. Dass einer der Mitverurteilten, Charles Pietschker, ebenfalls zu den in Moskau erschossenen Deutschen gehörte, war bereits aus der Veröffentlichung von „Facts & Files“ bekannt. Pietschker, der als Untergebener von Georg Haarmann gearbeitet hatte, war verdächtigt worden, für die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KGU) zu arbeiten. Dies war eine von Westberlin aus operierende Widerstandsgruppe gegen die kommunistische Diktatur in der DDR. Pietschker geriet durch die Denunziation eines Taxifahrers, demgegenüber er sich unvorsichtigerweise geäußert hatte, ins Visier der Geheimpolizei. Nach seiner Verhaftung belastete er Georg Haarmann nicht nur als Mitwisser, sondern auch als Mitstreiter.
Am 12. Juni 1952 wurde Georg Haarmann unter dem Vorwurf antisowjetischer Propaganda und Verleumdung der Führer von Staat und Regierung verhaftet. In den folgenden Verhören – zunächst in Rudolstadt, später in Chemnitz – gab er zwar zu, sich kritisch über zu hohe Arbeitsnormen, schlechte Bezahlung und die Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze geäußert zu haben, doch stritt er ab, von der Tätigkeit Pietschkers für die KGU gewusst zu haben. Es folgten zahlreiche weitere Verhöre, teils mehrfach am Tage und spätabends. Unter ihrem Druck gab er schließlich sogar zu, dass man von der Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstandes gesprochen habe, ohne einen solchen freilich konkret vorzubereiten. Ende August 1952 beendete die sowjetische Geheimpolizei ihre Ermittlungen und bereitete die Anklage vor.
Am 1. und 2. Oktober 1952 stand Georg Haarmann zusammen mit seinen Mitangeklagten, darunter zwei Lehrlingen, in Chemnitz-Kaßberg vor dem Militärtribunal der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland. Das Gericht verurteilte ihn, Charles Pietschker und einen anderen Mitarbeiter zum Tode, bei Letzterem wurde die Todesstrafe später in 25 Jahre Besserungsarbeitslager umgewandelt. Die beiden Lehrlinge wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Rechtsgrundlage der Verurteilung war der Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR, und zwar die Absätze 2 (Bewaffneter Aufstand), 8 (terroristische Handlungen), 10 (Antisowjetische Propaganda) und 11 (Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation). In der Gerichtsverhandlung bestritt Georg Haarmann die ihm zur Last gelegte Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands, räumte aber seine kritische Einstellung gegenüber dem politischen System in der DDR ein. Anschließend wurde er über das Gefängnis Berlin-Lichtenberg in das Moskauer Gefängnis Butyrka deportiert und dort nach Ablehnung seines Gnadengesuches am 3. Januar 1953 erschossen. Seine Leiche wurde noch in der Nacht der Hinrichtung im Krematorium des Friedhofs Donskoje in Moskau verbrannt, die Asche in ein Massengrab an der Friedhofsmauer geschüttet. Seit 1. Juli 2005 erinnert eine Gedenkanlage auf dem Friedhof an Georg Haarmann und die anderen dort bestatteten fast 1 000 Deutschen, die zwischen 1950 und 1953 in Moskau erschossen worden waren.
Der Beschluss der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation über die Rehabilitierung Georg Haarmanns vom 17. Juli 2001 stellte klar, dass sich in der Akte keine Belege für die Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes oder für den Besitz von Waffen befänden, sondern dass die Verurteilten lediglich antisowjetische Gespräche geführt hätten. Somit seien Georg Haarmann und die anderen aus politischen Motiven verurteilt worden. Im Zuge der Akteneinsicht kam Ursula S. unter anderem in den Besitz von Kopien eines Verhörprotokolls, des Urteils und der in der Akte enthaltenen Ausweise. Letztere werden leider nicht einmal an Angehörige ausgehändigt.
Unter den Ausweisen befindet sich einer, der zwei Auszeichnungen Georg Haarmanns als „Aktivist“ verzeichnet und die Begründungen dafür enthält. Dem Ausweis selbst ist ein Zitat vorangestellt, das von Stalin stammt: „Wir selbst müssen zu Spezialisten, zu Meistern unserer Sache werden.“ Georg Haarmanns Leben endete auf gewaltsame Weise nach nur 43 Jahren in dem von Stalin, dem Spezialisten für massenhaften Terror, geschaffenen, nahezu vollkommenen totalitären Unterdrückungssystem.
Ursula S. bewegten die neuen Erkenntnisse über das tragische Schicksal ihres Vaters sehr und deren Verarbeitung fiel ihr schwer. „Ich darf nicht darüber nachdenken, wie viel Unrecht damals doch geschehen ist.“ Sie fragte sich: „Was waren das für Menschen und was für ein Staat?“ Zugleich ist sie dankbar, dass es die Dokumentationsstelle in Dresden gibt: „Sie hat mir und vielen anderen Menschen geholfen, die ungewissen Schicksale ihrer Angehörigen aufzuklären.“
Zur Person
Nachname: | Haarmann |
Vorname: | Georg |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 25.08.1909 |
Geburtsort: | Dortmund |
Sterbedatum: | 03.01.1953 |
Sterbeort: | Moskau |
Letzter frei gewählter Wohnort: | Saalfeld |
Begräbnisstätte: | Donskoje-Friedhof Moskau |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Arsenij Roginskij, Frank Drauschke und Anna Kaminsky (Hrsg.), "Erschossen in Moskau". Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1952, 3. Auflage, Berlin 2008 |
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