Dr. jur. Wilhelm Harmelin (1900–1967)
Der Rechtsanwalt und Kaufmann Dr. Wilhelm Harmelin, geboren am 8. November 1900 in Leipzig, gehörte zu den jüdischen Männern, die wegen „Rassenschande“ in das KZ Sachsenburg eingeliefert wurden. Seit Mitte der 1930er-Jahre ging der NS-Staat in der „Judenfrage“ neue Wege. Die Existenzbedingungen der Juden im „Dritten Reich“ wurden immer mehr eingeschränkt. Besondere Bedeutung für die beschleunigte Ausgrenzung in Form der Einweisung in Konzentrationslager erlangte der neu eingeführte strafrechtliche Tatbestand der „Rassenschande“. Laut des während des Nürnberger Reichsparteitages im September 1935 erlassenen „Blutschutzgesetzes“ waren Eheschließungen zwischen Juden und „Deutschblütigen“ verboten, außerehelicher Geschlechtsverkehr wurde unter Strafe gestellt. Mit besonderem Eifer wurde fortan das Privatleben der Juden beobachtet, um „Rassenschändungen“ aufzudecken, wie der Fall von Wilhelm Harmelin verdeutlicht.
Wilhelm Harmelin entstammte einer Rauchwarenhändlerfamilie, die großes Ansehen in der Messestadt genoss. Seine Eltern waren Moritz Harmelin und Sara Garfunkel. Er hatte noch einen älteren Bruder. Marcus Harmelin, der aus Brody (Österreichisch-Polen) stammende Urgroßvater, hatte im Jahr 1830 die nach ihm benannte Borsten- und Rauchwarenhandlung in Leipzig gegründet.
Harmelin besuchte das König-Albert-Gymnasium in Leipzig. Zwischen 1918 und 1922 studierte er zunächst Medizin, dann Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Leipzig, Freiburg, Berlin und München. Im Jahr 1919 war er als Schriftführer maßgeblich an der Gründung der Verbindung der Studenten jüdischen Glaubens an der Universität Leipzig beteiligt. Im Jahr 1921 gehörte er zu den Mitgründern der Akademischen Ortsgruppe des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Leipzig. Im Jahr 1922 bestand er das Referendarexamen an der Universität Leipzig. Am 2. Juli 1926 wurde Harmelin an der Juristenfakultät derselben Universität zum Doktor der Rechte promoviert. Er hatte eine 300 Seiten umfassende Dissertation zum Thema „Grundzüge der Geschichte und Verfassungen der öffentlich-rechtlichen Oberverbände des deutschen Judentums“ eingereicht. Am 6. Januar 1927 bestand er beim Sächsischen Ministerium der Justiz in Dresden das Assessorexamen. Das verlockende Angebot, die Richterlaufbahn einzuschlagen, lehnte er ab.
Dr. Harmelin ließ sich stattdessen als Rechtsanwalt beim Land- und Amtsgericht Leipzig nieder. Seine Kanzlei befand sich in dem der Familienfirma gehörigen Hausgrundstück Nicolaistraße 59. Er wohnte bei seiner verwitweten Mutter am Nordplatz 2. Sein Vater war am 3. Juni 1925 in Leipzig verstorben. In der Folgezeit machte er sich als Anwalt einen Namen. Er hatte sich auf Handelsrecht spezialisiert, insbesondere auf das Recht der Schuldverschreibungen und Obligationen. Diesbezüglich veröffentlichte er in dieser Zeit auch mehrere Artikel in der „Frankfurter Zeitung“. Im Jahr 1930, als die Familienfirma ihr 100-jähriges Bestehen feierte, verfasste der Anwalt darüber hinaus eine 44 Seiten umfassende Festschrift. Er war auch ein angesehener Sammler von Musikalien. Harmelin verfolgte damals sogar die Absicht, eine Internationale Verdi-Gesellschaft in Leipzig ins Leben zu rufen. Außerdem hatte er von seinem Großvater Joachim Garfunkel eine umfangreiche Bibliothek geerbt.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war auch eine personelle „Säuberung“ des Justizwesens verbunden. Aufgrund zweier Gesetze, die bereits am 7. April 1933 in Kraft traten, verlor auch Dr. Harmelin mit Wirkung zum 30. Juni 1933 seine Zulassung als Rechtsanwalt. Er trat daraufhin 1935 als Gesellschafter in die aufgrund der NS-Boykottmaßnahmen angeschlagene Familienfirma ein, die seit dem Tod des Großvaters (1922) und Vaters (1925) vom Bruder Max allein geleitet wurde.
Am 7. August 1935 wurde dem unverheirateten Wilhelm Harmelin unerwartet „volksschädigendes und rassenschänderisches Verhalten“ vorgeworfen. Daraufhin brachte man ihn ins Polizeigefängnis Leipzig. Der Polizeipräsident zu Leipzig verhängte am 17. August 1935 aufgrund von § 1 der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 die „vorläufige Festnahme“ über ihn. Der Beschuldigte wurde in die Städtische Arbeitsanstalt (Riebecker Straße 63), die in dieser Zeit eine Durchgangsanstalt war, überstellt. Der Präsident des Geheimen Staatspolizeiamtes Sachsen erließ schließlich am 28. August 1935 wegen „Rassenschande“ den „Schutzhaftbefehl“, wonach Harmelin „dem Schutzhaftlager Sachsenburg“ zugeführt werden sollte. Am Nachmittag des 12. September 1935 wurde er ins Polizeigefängnis überführt, um am nächsten Morgen in das angeordnete Lager verlegt zu werden.
Dort wurde Harmelin der III. Gefangenen-Kompanie zugeordnet. Hugo Gräf (1892-1958), der frühere KPD-Reichstagsabgeordnete, erinnerte sich im Juni 1936 in der Prager „Arbeiter-Illustrierte Zeitung“ auch an diese Kompanie. Er nannte sie „Strafkompanie“, in die neben Juden, „Zuhälter, unverbesserliche marxistische Intellektuelle und Funktionäre sowie mehrmals bestrafte Gefangene“ eingereiht worden wären. Der Berliner Buchhändler Paul Wolff, der im Frühjahr 1935 als jüdischer Emigrant (Rückwanderer) in das KZ überstellt worden war, äußerte sich ähnlich: „Die Juden waren anfangs mit anderen Häftlingen zusammen, bis später eine neue Welle von Juden kam, die als Rassenschänder bezeichnet wurden und sich nur aus den Schichten der ersten jüdischen Familien aus Chemnitz, Leipzig und Dresden zusammensetzte. Fast alles Rechtsanwälte, Ärzte, Zahnärzte“. Damit meinte er auch den Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Harmelin, der fortan zwei Winkel (gelb und schwarz) als „jüdischer Rassenschänder“ auf seiner Häftlingskleidung tragen musste.
Als die Zahl der jüdischen Häftlinge im Herbst 1935 auf etwa 40 gestiegen war, wurde eine „Judenkompanie“ gebildet. Gerade diese Kompanie hätte den größten Abgang durch Tod, Selbstmord oder längere Krankheit aufgewiesen, hob Gräf in seinem Erinnerungsbericht hervor. So wundert es auch nicht, dass Harmelin am 23. Januar 1936 wegen einer Handverletzung und fortwährender Brustschmerzen ins Krankenrevier verlegt wurde. Zwei Tage später wurde er vom Lagerkommandanten erneut beurteilt: „H. hat sich bis jetzt noch nicht gebessert. Gegen eine eventuelle Entlassung des H. aus der Schutzhaft erhebe ich begründeten Einspruch beim politischen Polizeikommissar.“ Schließlich wurde Harmelin am 15. Mai 1936 aus dem KZ entlassen. Noch im selben Jahr unternahm er erste Schritte, um nach England auszuwandern, was polizeiliche Ermittlungen gegen ihn zur Folge hatte.
Während der Haftzeit geriet die Firma in wirtschaftliche Schwierigkeiten, Importbeschränkungen brachten den Fellhandel fast vollständig zum Erliegen. Am 31. März 1939 konnte Wilhelm Harmelin, der zuletzt bei seiner Mutter im Haus Grassistraße 16 wohnte, nach England auswandern. Zwei Tage später erreichte er an Bord eines Passagierschiffs die Hafenstadt Harwich. Sein Bruder Max war eine Woche zuvor dahin emigriert. Das fast 110-jährige Familiengeschäft wurde einige Monate später liquidiert. Der Versuch der Brüder, dieses in London wiederzubeleben, scheiterte.
Innerhalb zweier Monate wurden Wilhelm Harmelin die deutsche Staatsbürgerschaft (08.12.1940) und der Doktortitel (03.01.1941) aberkannt. Nach Kriegsausbruch wurde er im Oktober 1940 von den britischen Militärbehörden als "feindlicher Ausländer" interniert. Sein Bruder Max sollte am 1. Juli 1940 an Bord des ehemaligen Ozeanlinienschiffs „Arandora Star“ von Liverpool aus nach St. John’s (Neufundland, Kanada) deportiert werden. Einige hundert Seemeilen nordwestlich der Äußeren Hebriden wurde das Schiff mit etwa 1 200 Internierten, zumeist Italiener, an Bord von einem deutschen U-Boot unter dem Kommando von Günther Prien versenkt. Max Harmelin, der sieben Stunden lang im Wasser trieb, wurde von einem herbeieilenden Schiff gerettet und nach Schottland zurückgebracht. Von dort wurde er am 10. Juli 1940 an Bord des Passagierschiffs „Dunera“ nach Australien deportiert, wo er nach einer entbehrungsreichen Fahrt am 3. September 1940 in Tatura (Bundesstaat Victoria) eintraf. Er kehrte jedoch am 9. Februar 1942 nach England zurück, um einige Wochen später in das 97. Pionier Corps der Britischen Armee einzutreten.
Am 9. September 1942 wurde die Mutter der beiden Brüder, Sophie Harmelin, nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte sowohl das Ghetto als auch die Typhusepidemie, die dort im April 1945 ausgebrochen war. Fast 79-jährig starb die Mutter am 22. April 1949 an den Folgen der langjährigen Entbehrungen in Leipzig. Ihre Urne wurde in der Erbbegräbnisstätte Harmelin auf dem dortigen Alten Jüdischen Friedhof beigesetzt.
Wilhelm Harmelin wurde 1947 die britische Staatsangehörigkeit zuerkannt. Im Frühjahr 1949 vermählte er sich in London mit Hilde Lynfield (früher Lilienfeld). Ihre Ehe blieb kinderlos. Die Eheleute lebten im Londoner Stadtteil Paddington. In den 1950er-Jahren gründete er dort mit einem Geschäftspartner eine neue Firma, die auf Metallhandel ausgerichtet war.
In London stand Dr. Harmelin mit dem deutsch-jüdischen Publizisten Dr. Alfred Wiener (1885-1964), der zusammen mit David Cohen 1933 das Jewish Central Information Office (JCIO) in Amsterdam gegründet hatte, in freundschaftlicher Verbindung. Seine Sammlung, die 1939 kriegsbedingt nach London verlegt worden war, wurde nach Kriegsende als „Dr. Wieners Bibliothek“ bekannt. Harmelin hatte Dr. Wiener 1921 in Leipzig kennengelernt. Im Juni 1960 überreichte er der Wiener Library ein Exemplar der von ihm verfassten Firmenfestschrift. Im August 1963 schenkte er der Bibliothek, die sich heute "Wiener Holocaust Library" nennt, einen Mikrofilm seiner Dissertation, den die Universitätsbibliothek Leipzig eigens für ihn angefertigt hatte. Der Kopie hatte er eine Anlage mit dem Titel „Berichtigung und nachträgliche Hinweise des Verfassers“ vom 21. August 1963 beigefügt. Er veröffentlichte damals auch einen umfangreichen Aufsatz für das Jahrbuch des Leo-Baeck-Institutes in London, in dem es um die Rolle der Juden im Leipziger Rauchwarenhandel ging.
Dr. Wilhelm Harmelin starb am 9. Oktober 1967. Sein Bruder Max war bereits am 27. Mai 1951 verstorben. Auf der Familiengrabstätte in Leipzig wurden nachträglich zwei Inschriften angebracht, mit denen an die in London verstorbenen und dort beigesetzten Brüder gedacht wird. Laut Beschluss des Fakultätsrates der Juristenfakultät der Universität Leipzig vom 17. Januar 2007 wurde Wilhelm Harmelin der aberkannte Doktorgrad postum wiederzuerkannt. Hilde Harmelin überlebte ihren Ehemann um mehr als 30 Jahre. Sie starb im Jahr 2009. Das 1913/14 errichtete, unter Denkmalschutz stehende „Harmelin-Haus“, gelegen an der Nikolaistraße 57–59 / Ecke Richard-Wagner-Straße in Leipzig, erinnert noch heute an das einstige Wirken der Familie Harmelin in der Messestadt.
Text: Dr. Jürgen Nitsche
Zur Person
Nachname: | Harmelin |
Vorname: | Wilhelm |
Nation/Land: | Deutschland |
Geburtsdatum: | 08.11.1900 |
Geburtsort: | Leipzig |
Sterbedatum: | 09.10.1967 |
Sterbeort: | London |
Letzter frei gewählter Wohnort: | Leipzig |
Begräbnisstätte: | Friedhof in London |
Orte/Stationen der Verfolgung/Haft |
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Ergänzungen
Quelle(n)/ Literatur |
Die Angaben beziehen sich hauptsächlich auf Auskünfte und Unterlagen, die die Eheleute Rosemary Harmelin Preiskel und Anthony Preiskel (England) freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben sowie auf Hubert Lang, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848−1953), Kaufering 2014. |
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