Viertes sachsenweites Arbeitstreffen Dokumentation – Auskünfte – Schicksalsklärung
14.07.23
Knapp 20 Beschäftigte von Gedenkstätten und Aufarbeitungsinitiativen aus ganz Sachsen fanden sich auf Einladung der Dokumentationsstelle Dresden am 21. Juni 2023 zum 4. Arbeitstreffen im Archiv Bürgerbewegung Leipzig (ABL) zusammen. Das jährliche Treffen dient dem Austausch über aktuelle Probleme und Projekte in den Arbeitsbereichen Dokumentation, Auskunftserteilung und Schicksalsklärung und wird zugleich genutzt, um „über den sächsischen Tellerrand“ hinaus nach Anregungen Ausschau zu halten.
Nach einer Besichtigung der Außenstelle des ABL mit einer instruktiven und anschaulichen Einführung durch Balthasar Dusch (ABL) startete die Beratung mit einem Vortrag von Ulrich Müller (Stasi-Unterlagen-Archiv Berlin) zu Quellen der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der DDR im Stasi-Unterlagen-Archiv des Bundesarchivs. Die hervorragende Bedeutung dieses Archivs für die Forschung zum Thema ergibt sich daraus, dass in der entsprechenden Dokumentationsstelle der DDR-Staatssicherheit Ermittlungen und Strafverfahren seit 1964 zentral koordiniert erfasst wurden. Gesammelt wurden Personal- und Sachakten sowohl aus den eigenen Archiven als auch durch Rücküberführung aus sowjetischen Archiven. Auf Nachfrage teilte Herr Müller mit, dass die Bestände des Stasi-Unterlagen-Archivs zukünftig auch über das Online-Findhilfsmittel „Invenio“ recherchierbar gemacht werden sollen.
Zur neu eröffneten Gedenkstätte Großschweidnitz, die an die Opfer der NS-Krankenmorde erinnert, und zum Aufbau der Opferdatenbank referierten Dr. Maria Fiebrandt und Christoph Hanzig (beide Gedenkstätte Großschweidnitz). In der Datenbank, die als Teil eines Projektes zur Erfassung aller Opfer der NS-Euthanasie in und aus Sachsen angelegt wurde, sind derzeit Angaben zu mehr als 4 000 Personen erfasst. Grundlage der Einträge sind die Patientenakten der Landesanstalt Großschweidnitz, die im Sächsischen Staatsarchiv Hauptstaatsarchiv Dresden lagern. Zu den Forschungsergebnissen gehören Erkenntnisse über die Beteiligung von Beschäftigten der Anstalt an den Morden, wie die Mitwirkung des Anstaltspfarrers Johannes Axt, der die Todesursachen gegenüber Angehörigen verschleierte. Weiteres Ergebnis der Forschung war die Offenlegung der Indizienketten, die auf Tötungen hinwiesen, wie die individuelle Disposition (Alter/Konstitution/Arbeitsleistung), Krankheits-Behandlungsinformationen (Diagnose/Pflegeaufwand) und die Begleitumstände (Transport/Abteilung/Personal/Lebensbedingungen). In der anschließenden Diskussion des Vortrags wurde die Schutzwürdigkeit sensibler Daten betont, vor allem in Bezug auf Krankheiten und Diagnosen.
Michael Kusche (ehemals Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen) präsentierte die Web-App „Haft in der DDR. Die Gefangenen der Stasi“, die im Ergebnis des Forschungsprojekts „Daten politischer Verfolgung“ an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen entstanden ist. Dafür wurden Karten der Kerblochkartei der DDR-Staatssicherheit und Digitalisate der Gefangenenkartei des Ministeriums des Innern der DDR in eine Datenbank erfasst und ausgewertet. In der Web-App lassen sich Forschungsdaten auf verschiedene Weise visualisiert abrufen. Biogramme mit eingebetteten Fotografien, Dokumenten und Zeitzeugenvideointerviews ergänzen die Präsentation. In der anschließenden Diskussion wurden unter anderem die Auswahlkriterien für das Gefangenensample diskutiert und die Frage aufgeworfen, warum die Stasi-Sonderhaftanstalt Bautzen II nicht in der App enthalten ist.
Nach einem Überblick und einer kleinen Einführung in die Gründungszeit und die Entwicklung des Archivs Bürgerbewegung Leipzig präsentierte dessen Leiterin Dr. Saskia Paul eine Auswahl an Sammlungsgegenständen (Fotografien, Vor- und Nachlässe, Samisdat, Plakate). Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter gaben Einblicke in die Vielfältigkeit der bereits durchgeführten und aktuellen Projekte. So stellte Juliane Thieme, zurzeit Bildungsreferentin im ABL, die digitale Lernplattform „Unangepasst, eigensinnig, anders …“ vor, die mit Studierenden entwickelt wurde und sich mit alternativen Jugendszenen (z. B. Breakdance, Punk, Heavy Metal) in der DDR beschäftigt. Die Plattform soll im Januar 2024 freigeschaltet werden (www.dieanderejugend.de). Achim Beier vermittelte einen Eindruck in die Sammlung von 2 000 Filmbändern einer Reihe von „Kanal X“, die Interviews mit Leipziger Einwohnern zur persönlichen Situation nach 1991 zum Gegenstand hatte. Zudem präsentierte er die Konzeption der Ausstellung zum Glasplattenarchiv des jüdischen Fotografen Abram Mittelmann. In treuhänderischer Verantwortung gegenüber der Erbin und in Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde entstand die Ausstellung im Ägyptischen Museum der Universität Leipzig, die dort noch bis zum 23. August 2023 zu sehen ist. Diana Stiehl stellte das Fotoarchiv des ABL vor, das zu etwa 20 Prozent in einer Datenbank erfasst und online recherchierbar ist.
Dr. Markus Wegewitz (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) gab einen Überblick zu einem aktuellen Digitalisierungsprojekt der Stiftung. Das Pilotprojekt verfolgt sowohl die Datenerfassung als auch die Digitalisierung und Systematisierung der Sammlung sowie die Integration bisheriger Zwischenlösungen. Frühere Lagerliteratur wurde ebenso erschlossen wie Audio- und Videodokumente, Magnettonbänder und andere analoge Interviews. Sehr zeitintensiv war die Rechteklärung. Dabei solle keine Megadatenbank entstehen, vielmehr sollten Infrastrukturen genutzt werden, die es schon gibt, wie das Angebot des Hauses der Geschichte zur Digitalisierung von Zeitzeugeninterviews oder Oral-History.Digital an der FU Berlin. Ziel ist die Verankerung der Bestände in der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) zur öffentlichen Nutzung oder bei Arolsen Archives. Die Web-App „dendingenaufderspur.de“ soll Schülergruppen auf den Gedenkstättenbesuch vorbereiten, ist sehr eng an den Nutzungsgewohnheiten der Zielgruppe orientiert und wurde mit einem ausgewählten Nutzerkreis entwickelt. In einem Quiz können Fragen an ein Objekt gestellt werden, das auch in 3-D-Ansicht abgebildet wird. Nach einem Einführungstext und Fragen, die das spezifische Interesse des Nutzers oder der Nutzerin zu ermitteln versuchen, wird nach den Antworten eine Auswahl an Objekten getroffen. Das Objekt komme also zum Schüler bzw. der Schülerin, je nach Interessengebiet. Geschichtliche Hintergründe, Nutzungsart, Benutzer, Fundort und vieles mehr um die Objektgeschichte werden in kleinen Texten, Zeichnungen visualisiert und mit Fotografien und durch Videos ergänzt. Zu den Features gehört auch ein Tutorial für Lehrerinnen und Lehrer. In der Diskussion wurde die Nutzung der Web-App für einen individualisierten digitalen Ausstellungsrundgang angeregt.
Dr. Bert Pampel (Dokumentationsstelle Dresden) erläuterte in einem abschließenden Kurzbeitrag den Stand der Überlegungen zu einem Digitalisierungskonzept für den Bereich Sammlungen der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Dieser sei kurz zusammengefasst unbefriedigend. Obgleich das Thema einer stiftungsübergreifenden Sammlungsdokumentation seit Jahren auf der Agenda steht, fehle es nach wie vor an einem langfristigen Handlungs- und Organisationsrahmen, und zentrale organisatorische und rechtliche Fragen seien weiterhin ungeklärt. Obgleich in einigen Arbeitsstellen Schritte unternommen bzw. fortgeführt wurden, um Bestände zu digitalisieren und online zugänglich zu machen, sei der Erschließungsgrad mehrheitlich ungenügend. Trotz des Handlungsdrucks sei es bislang nicht gelungen, die notwendigen zusätzlichen personellen Ressourcen für die koordinierte Erarbeitung eines Konzepts und für dessen Umsetzung aufzubringen. Unabhängig davon, ob dies in nächster Zeit gelingen wird, müssten die Gedenkstätten der Stiftung diejenigen Dokumente, Fotografien oder Objekte, die als einzigartiges kulturelles Erbe langzeitarchiviert, digitalisiert und online präsentiert werden sollen, markieren und erschließen, die Rechte für deren Veröffentlichung klären und sie in anerkannten digitalen Nachweissystemen erfassen.
Nicht nur deshalb gibt es genug Stoff für Anregungen, Diskussionen und Austausch auf kommenden Arbeitstreffen.
Kontakt:
Dr. Bert Pampel, Leiter der Dokumentationsstelle Dresden | Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Tel. 0351 4695548
bert.pampel@stsg.de
www.dokst.de