Verhaftet – Verschleppt – Vergessen. Dokumentationsstelle Dresden veröffentlicht neues Online-Portal zu Verurteilten sowjetischer Militärtribunale (SMT)
14.06.23
Die Namen Herbert Belter, Wolfgang Natonek und Arno Esch sind nicht wenigen zeithistorisch Interessierten inzwischen bekannt. Wer aber kennt Horst Leißring, Hermann Meise oder Charlotte Heyden? Leißring, wegen Hochverrats bereits vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof verurteilt, studierte Jura an der Universität Leipzig und leistete im Umfeld des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen Widerstand gegen die Sowjetisierung der Universitäten in der SBZ/DDR. Hermann Meise, ein Sozialdemokrat, überlebte mehrere NS-KZ und starb in der DDR-Haftanstalt Bautzen, weil er von Görlitz aus ein deutschlandweites Netzwerk mit früheren Weggefährten aus der SPD und den Gewerkschaften geknüpft hatte. Charlotte Heyden, Stadträtin in Görlitz, wurde als Mitglied einer liberalen Oppositionsgruppe verhaftet und in den GULAG verschleppt.
Die Genannten gehören zu einem Kreis von mehr als 160 Personen aus Sachsen, deren Verfolgung nun ein biografischer Geschichtsatlas ausgehend von ihrer letzten Wohnanschrift vor der Verhaftung unter der Internetadresse www.verurteiltundvergessen.de dokumentiert. Anders als die inspirierenden vergleichbaren Projekte „Stolpersteine“ (www.stolpersteine.eu) und „Die letzte Adresse“ (www.poslednyadres.ru, www.letzteadresse.de) handelt es sich um ein rein virtuelles Erinnerungs- und Informationsprojekt. Bis Ende 2023 wird es mit finanzieller Förderung durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auf insgesamt 400 Verfolgte aus ganz Deutschland ausgebaut. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt die Seite nicht.
Mit dem Projekt wird vor allem bislang weniger bekannten Menschen, die einst in unserer Nachbarschaft lebten, bis sie wegen ihrer kritischen Haltung zum kommunistischen Regime oder wegen oppositioneller Aktivitäten zwischen 1945 und 1955 abgeholt und verschleppt wurden, ein Gesicht gegeben. Außerdem soll es dazu anregen, die Geschichte des eigenen Geburts- oder Wohnortes in der Nachkriegszeit und in der frühen DDR zu erkunden und sich damit auseinanderzusetzen. Denn die zentrale Übersichtskarte macht deutlich: Nicht nur aus den größeren Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz wurden Kritiker und Gegner der Diktaturdurchsetzung abgeholt, sondern auch aus vielen Kleinstädten und Dörfern. Zugleich macht die Dokumentationsstelle mit der Online-Präsentation das von ihr zusammengetragene Wissen und Material zu diesem Personenkreis allgemein zugänglich.
Die Quellen der bereitgestellten Informationen werden dabei in jedem Einzelfall belegt. Sie stammen überwiegend aus russischen und deutschen Archiven, aus Rehabilitierungsvorgängen, von Standesämtern, aus Veröffentlichungen, aus Selbstauskünften der Verurteilten sowie von Angehörigen.
Auf der Seite werden nur in der sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR Verfolgte und von SMT Verurteilte vorgestellt, die von sowjetischen oder russischen Behörden rehabilitiert worden sind. Menschen, die das nationalsozialistische Unrechtssystem aktiv unterstützt haben, werden selbst bei erfolgter Rehabilitierung nicht präsentiert.
Nicht wenige Biografien auf der Seite enthalten bislang nur spärliche Informationen. Deshalb ist dies auch eine Einladung zum Mitmachen. Für Hinweise auf weitere Fälle, für Literaturhinweise sowie auf Dokumente, Fotografien oder Erlebnisberichte ist die Dokumentationsstelle Dresden sehr dankbar. Wenden Sie sich bitte über das Kontaktformular auf der Seite an uns oder per E-Mail an katharina.seidlitz@stsg.de.
Erst durch Hinweise von Angehörigen konnte das bittere Los des Dresdner Pfarrers Dr. Hugo Hänsel und seines Sohnes Gottfried aufbereitet werden. Der evangelische Geistliche war nach einer Denunziation vermeintlich abfälliger Äußerungen über die Besatzungsmacht von einem Militärtribunal in Dresden verurteilt und später in die Speziallager Bautzen und Sachsenhausen verschleppt worden. Sein Sohn versuchte, den Verbleib seines Vaters über den Suchdienst der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) aufzuklären. Als Dr. Hugo Hänsel Anfang 1950 schwerkrank entlassen wurde, musste er erfahren, dass Gottfried wegen dieser Kontakte zur KgU selbst von einem SMT in Dresden verurteilt worden war. Im darauffolgenden Jahr starb Gottfried Hänsel im Alter von 32 Jahren in der Strafanstalt Bautzen.
Kontakt
Dr. Bert Pampel, Leiter der Dokumentationsstelle Dresden | Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Tel. 0351 4695548