Lissa Flade verlor vor 70 Jahren ihre Mutter auf dem Sonnenstein
Dresdner Neueste Nachrichten, 5.11.2010
Der Sonnenstein ist mit dem Leben von Lissa Flade eng verbunden. Seit über 55 Jahren lebt sie hier, arbeitete hier, gründete eine Familie, mit der die heute 80-Jährige die schönsten Stunden ihres Lebens verbrachte, und sie engagiert sich seit 20 Jahren im Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein. Lissa Flade ist Mitglied der ersten Stunde, viele Jahre im Vereinsvorstand tätig. Sie hat die Gedenkstätte mit aufgebaut. Als Dank und Anerkennung für ihr großes Engagement ernannte das Kuratorium sie zum Ehrenmitglied.
Der Pirnaer Sonnenstein brachte aber auch sehr viel Leid in das Leben der agilen Frau. "Ich bin eine der wenigen Zeitzeugen, die in der Lage sind, von den Geschehnissen während der NS-Zeit zu berichten", sagt sie. Es war der 1. Oktober 1936, als ihre Mutter in die Heilanstalt gebracht wurde. "Ursprünglich für vier Wochen zur Behandlung einer depressiven Erscheinung", erinnert sich Flade, die damals sechs Jahre alt war. Die glückliche Kindheit in Ottendorf bei Sebnitz fand in jenem Oktober ein jähes Ende. Denn "Muttel", wie Lissa Flade noch heute liebenswürdig ihre Mutter Selma Marka Henker nennt, wurde nicht mehr entlassen.
Nach Aufenthalten in Leipzig-Dösen und Arnsdorf fiel sie am 14. November 1940 dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer. Ein grauer Bus der "Aktion T4" brachte die 43 Jahre alte Mutter dreier Kinder in die Gaskammer auf dem Sonnenstein, wo sie im Zuge des "Euthanasie"-Programms umgebracht wurde. Bis 1941 verloren 13 720 Menschen bei den Krankenmorden in Pirna ihr Leben. Mehr als tausend KZ-Häftlinge folgten ihnen 1941 in den Tod.
Als "Ironie des Schicksals" bezeichnet es Lissa Flade, dass sie ihr beruflicher Werdegang in den 1950er Jahren "ausgerechnet nach Pirna" verschlug. Als Sekretärin in der Luftfahrtindustrie arbeitete sie 35 Jahre lang in unmittelbarer Nähe der Tötungsanstalt. "Es war eine sehr schöne, inhaltsreiche Tätigkeit", erinnert sie sich, "aber auch eine bittere Pille, jeden Tag an die Stätte zu kommen, wo Muttel ermordet wurde."
Den Toten und ihrer Mutter einen würdigen Ort des Gedenkens und der Erinnerung zu geben, ist Lissa Flades Ansporn für ihre Arbeit im Kuratorium bis heute. Als sie im Herbst 1990 von der Initiative zur Gründung des Kuratoriumvereins las, trat sie ihr sofort bei. Ihrem unermüdlichen Einsatz ist es mit zu verdanken, dass das Geschehen allmählich in das öffentliche Bewusstsein drang. Mit ihren Erinnerungen half sie, den genauen Ort des Verbrechens ausfindig zu machen. Noch heute steht sie jungen Wissenschaftlern bei der Erforschung der "Euthanasie"-Morde zur Seite. Sie bringen auch immer wieder Zeugnisse des Leidenswegs ihrer Mutter und Beweise für die NS-Verbrechen zutage. So kam vergangenes Jahr heraus, dass Lissa Flades Mutter 1937 im Klinikum Pirna zwangssterilisiert wurde. "Geschichte stirbt nicht", sagt sie, was ihr Gewissheit gibt, dass die "Euthansie"-Morde weder geleugnet noch vergessen werden können.
S. Kuhnert