Ein Pirnaer Historiker hat die Lebensgeschichte der Ärzte und Pfleger vom Sonnenstein untersucht. Ein ungewöhnlicher Ansatz
Sächsische Zeitung vom 08.09.2010
Rund 15000 Menschen haben die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein auf dem Gewissen. Dass das Wort Gewissen in diesem Zusammenhang nicht greift, hat der Pirnaer Historiker Julius Scharnetzky als erstes gelernt. Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden nur wenige der 110 Ärzte, Pfleger, Leichenverbrenner, Schreiber, Fahrer, Aufpasser und Köche für ihre Taten vom Januar 1940 bis zum August 1941 verurteilt. Sieben Mitarbeiter verbüßten eine Strafe, weitere vier verschwanden nach ihrer Verhaftung durch die Sowjets und drei begingen vor oder nach ihrer Verurteilung Selbstmord.
Scharnetzky hat sich detailliert mit der Lebensgeschichte der Täter vom Sonnenstein auseinandergesetzt. Dabei stützte er sich vor allem auf Personalakten und Prozessunterlagen. Die Arbeit sei wichtig für die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, für die er arbeitet, aber auch für ihn selbst. Die Masterarbeit des Studenten wird sich mit den Tätern vom Sonnenstein beschäftigen.
Warum die Mediziner und Nicht-Mediziner bei der geheimen Mordaktion mitmachten, kann Scharnetzky oft aus ihren Lebensläufen ablesen. Die Hoffnung auf einen Karrieresprung und auf mehr Geld waren wahrscheinlich zwei wesentliche Gründe. Außerdem mussten die Mitarbeiter der Tötungsanstalt eine feste nationalsozialistische Einstellung besitzen. Dass das nicht nur für die fünf Ärzte auf Sonnenstein galt, zeigt das Beispiel des Kochs Kurt F. Der Düsseldorfer arbeitete im Konzentrationslager Buchenwald, bevor er den Mitarbeitern verschiedener Tötungsanstalten als Koch Essen servierte. Nach seiner Zeit auf dem Sonnenstein wurde er zu einem der brutalsten Aufseher im Konzentrationslager Treblinka. F. saß nach dem Krieg jahrzehntelang im Gefängnis. Wie ein Großteil der Sonnensteiner Mitarbeiter, die verurteilt wurden, stand F. nicht für die Morde auf Sonnenstein, sondern wegen seiner Taten in den Konzentrationslagern vor Gericht. Kein Arzt wurde verurteilt.
Keiner der fünf Ärzte, die in der Tötungsanstalt arbeiteten, musste ins Gefängnis. So wurden die Mediziner Klaus B. und Klaus E. zwar angeklagt, aber wegen mangelndem Unrechtsbewusstsein frei gesprochen. Nach dem Krieg arbeiteten die beiden als geschätzte Hausärzte in ihren Heimatgemeinden. Die Ärztekammer Niedersachsens erinnerte in ihrer Todesanzeige für E. 1994 an einen „verehrten Kollegen“.
Jeder vierte Nicht-Arzt, der in der Tötungsanstalt arbeitete, stand vor Gericht. Einer von ihnen war der Krankenpfleger Paul R. Er wurde 1947 zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, aber neun Jahre später wieder frei gelassen. Paul R. war in den Dresdner Euthanasieprozessen die Todesstrafe erspart geblieben, weil er ein umfangreiches Geständnis abgelegt hatte. Seine beiden Kollegen Hermann F. und Erhard G. wurden zum Tode verurteilt. Nach seiner Freilassung kam R. zurück nach Pirna und lebte noch bis zu seinem Tod 1966 in der Stadt.
Nicole Preuß