Rede des Sprechers des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Prof. Dr. Joachim Scholtyseck, anlässlich der Einweihung des Gedenkortes am Fort Zinna in Torgau am 9. Mai 2010
Der Wissenschaftliche Beirat der Stiftung Sächsische Gedenkstätten hat sich in den letzen Jahren intensiv mit der memorialen Gestaltung der Gedenkstätte in Torgau und der Gestaltung der Dauerausstellung des Dokumentations- und Informationszentrums beschäftigt. Er mußte dabei die historischen Gegebenheiten beachten: Das, was dargestellt wird und was mit Erläuterungen versehen wird, muß wissenschaftlichen Überprüfungen standhalten. Spekulationen sind den wissenschaftlich arbeitenden Historikern fremd; und auch mit Vermutungen halten sie sich gemeinhin zurück. Es gibt, so hat Reinhard Koselleck einmal ausgeführt, ein „Vetorecht der Quellen“.
Bei Ausstellungen müssen jedoch auch die kunstwissenschaftlichen und geschichtspädagogischen Aspekte gebührend beachtet werden. Eine Gedenkstätte und ihre Mahnmale haben schließlich auch einen Symbolgehalt in ihrer emblematischen Bildsprache. Hierbei muß auch beachtet werden, daß eine Denkmalsetzung, insbesondere im Rahmen einer ästhetischen Gesamtkonzeption, ein großes öffentliches Echo findet. Der Wissenschaftliche Beirat ist sich seiner Verantwortung bewußt, die in mancher Hinsicht über rein wissenschaftliche Aspekte hinausgeht, weil das Land Sachsen auch Neuland betritt. Thematisch vergleichbare Memorial-Installationen sowohl für Opfer der Wehrmachtsverbrechen und des sowjetischen Okkupationsterrors sind in Deutschland unbekannt. Die Gedenkstättenprojekte und Konzeptionen sind vom Wissenschaftlichen Beirat daher in historischer wie gestalterischer Hinsicht mit hohem zeitlichem Einsatz begleitet worden.
Nach langjähriger Präsentation von einzelnen Teilen eröffnete die Stiftung Sächsische Gedenkstätten 2004 auf Schloß Hartenfels in Torgau die Ausstellung »Spuren des Unrechts«. Ihr unmittelbarer Anlaß ist der Umstand, daß Torgau als exemplarischer Schauplatz für die NS-Justiz gelten kann. Seit 1943 residierte hier das Reichskriegsgericht, und daneben gab es die bedeutenden Militärgefängnisse Fort Zinna – das größte in Deutschland – und Brückenkopf sowie drei zeitweilige Feldstraflager.
Bezeichnend für das „Age of Extremes“, um den britischen Historiker Eric Hobsbawm zu zitieren, war jedoch, daß „im Zeitalter der Ideologien“ nach dem Ende der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus die Zeit der Verfolgungen keineswegs beendet war. Die Sowjetische Militäradministration nutzte Fort Zinna bis zur Jahreswende 1946/47 als sogenanntes „Speziallager Nr. 8“ bzw. bis zum Herbst 1948 als „Speziallager Nr. 10“, bevor seit 1950 das Festungsgebäude als Strafvollzugsanstalt der SED-Justiz weiterbetrieben wurde.
Erst nach dem Ende der SED-Diktatur war ein wirkliches Gedenken am ursprünglichen Tatort unter Einbringung wissenschaftlich-pädagogischer Aspekte überhaupt möglich. Ein Memorial ist eine Stätte des Gedenkens. Eine Ausstellung ist zudem auch ein Ort, an dem sich pädagogische Aspekte und historisch-fachwissenschaftliche Aspekte kreuzen. Eine Ausstellung ist daher auch immer, ein „work in progress“. Jede Ausstellung soll – und muß – daher idealerweise neue Quellenerkenntnisse zu den verschiedenen Verfolgungsperioden des 20. Jahrhunderts in Torgau integrieren. Kürzlich ist zudem angeregt worden, die Nutzungsformen des Gefängnisses Fort Zinna durch rechtsphilosophische Überlegungen, etwa durch die Einbeziehung der Analysen Michel Foucaults mit Blick auf das „Überwachen und Strafen “ zu ergänzen. Ähnlich wäre es sicherlich einer Überlegung wert, die verschiedenen Opfergeschichten stärker zu verknüpfen und manche Grauzonen zwischen Opfern und Tätern besser auszuleuchten. Für den Wissenschaftler ist das geradezu das Alltagsgeschäft: Vom Münchener Historiker Thomas Nipperdey stammt bekanntlich das Diktum: Die Geschichte sei eine Abfolge von Grautönen, in unterschiedlichen Schattierungen. Mit anderen Worten: Der Historiker verrätselt lieber, als daß er klare Trennungslinien zieht.
Wenn man das kürzlich erschienene und überaus empfehlenswerte Buch des britischen Historikers Tony Judt über Europa nach 1945 zu Rate zieht und nach der Lektüre über die unterschiedlichen Formen und Darstellungsarten des Umgangs mit der Vergangenheit der verschiedenen Nationen und Staaten nachdenkt, dann bekommt man einen Eindruck über die Verwerfungen, die mit dem Erinnern, mit dem sich Nicht-Erinnern, mit dem Verdrängen und mit dem „Nicht-so genau-wissen-wollen“ verbunden waren und noch verbunden sind. Die jeweiligen nationalen Erinnerungen sind fast überall in Europa zu einem „Mythos“ überhöht worden, das der Bildung eines positiven Selbstverständnisses von Bevölkerung und Regierung dienen sollte. Man könnte hierfür zahlreiche Beispiele anführen, aber ich belasse es mit dem aktuellen Hinweis darauf, wie lange die russische Regierung gebraucht hat, um sich ernsthaft mit den Verbrechen von Katyn auseinanderzusetzen und sich der historischen Wahrheit anzunähern. „Europe“, so hat es Tony Judt formuliert, „was built upon deliberate mismemory“.
Die Geschichtswissenschaft profitiert von den inzwischen weiter vorangeschrittenen Kenntnissen über das schwierige Verhältnis zwischen Gedächtnis und Erinnerung, zumal deren Beziehung mittlerweile durch Erkenntnisse der Neurobiologie, Philosophie, der Psychologie und der Kommunikationswissenschaft ergänzt worden sind. Die Kenntnis der Vergangenheit ist für die gesellschaftliche Standortbestimmung unerläßlich. Diesen Umstand hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga gemeint: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt.“ Um es noch einmal zu betonen: Daß Geschichte die „stets problematische und unvollständige Rekonstruktion“ der Vergangenheit ist, weiß die Wissenschaft bereits spätestens, seitdem der französische Historiker Maurice Halbwachs in den 1930er Jahren über das „kollektive Gedächtnis“ geschrieben hat.
Aber ist eine Erinnerungsstätte, ist eine Gedenkstätte der angemessene Ort, um solche geschichtsphilosophisch zweifellos hochinteressanten Überlegungen anzustellen? Überfordert er nicht diejenigen, die hier eine Tröstung, eine Mahnung und eine Erinnerung an das ihnen zugefügte Unrecht erwarten? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Der Wissenschaftliche Beirat hat sich daher auch für Torgau stets von dem Gedanken leiten lassen, daß die Gestaltung der „individuellen Setzung“ den jeweiligen Opferverbänden überlassen bleiben solle. Hier einen Ausgleich zu finden, war nicht immer einfach. Die künstlerische Ausführung soll schließlich insgesamt mit der ästhetischen Gesamtkonzeption der memorialen Gestaltung und der sorgsam und überlegt austarierten Balance der Architektur des Gedenkortes harmonieren. Häufig muß der Wissenschaftler in dieser Hinsicht einen Spagat machen, der nicht immer gelingt und wahrscheinlich nie ganz gelingen kann.
Aber der Wissenschaftliche Beirat ist der Ansicht, daß sich diese Mühe gelohnt hat. Mit der Eröffnung des Gedenkortes findet die faktisch lebenslängliche Diskriminierung der NS-Militärjustiz-Opfer in der Bundesrepublik ebenso ein Ende wie die vergleichbar sträfliche Vernachlässigung der Opfer der sowjetischen Speziallager durch die SED-Diktatur. Der Tag der Eröffnung des Memorials ist daher auch ein Tag der Erleichterung und Zuversicht – nach fast zwei Jahrzehnten Vorarbeit kann nun hier, an einem authentischen Ort, der Opfer der Diktaturen Hitlers und Stalins gedacht werden. Insofern ist es ein gutes Zeichen, daß heute ohne tagespolitischen Streit eine gemeinsame Veranstaltung für die Opfer aller Verfolgungsperioden stattfinden kann.