Ansprache der ersten Vizepräsidentin des Sächsischen Landtages, Frau Andrea Dombois, zum 65. Jahrestag der Befreiung des Lagers Zeithain am 23.04.2010
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, Exzellenzen, verehrte Gäste, vor allem aber: Liebe Angehörige,
wir befinden uns hier an einem Ort, der zur Einkehr und zur Besinnung auffordert. Tausende von Todesopfern eines Lagers, das als Todeslager in die Erinnerung der Völker eingegangen ist, liegen in dieser Erde. Insbesondere sowjetische Kriegsgefangene, gestorben an Unterernährung, Kälte, Schikanen, Krankheit und fehlender medizinischer Versorgung. Umstände, die nicht schicksalhaft, sondern von Menschen erdacht und gewollt waren. Was für die russischen, italienischen, französischen, polnischen und für die Häftlinge anderer Nationen endlich das Ende permanenter und zermürbender Lebensgefahr bedeutete – die Befreiung! -, war für die kämpfenden Truppen lediglich eine kleine Randnotiz im Kriegstagebuch. So vermerkte das Kriegstagebuch der 2. Krimgardekavalleriedivision der Roten Armee vom 23. April 1945 für den Abend des 22. April 1945 lapidar: „Ein Gefangenenlager mit insgesamt etwas 15.000 Personen wurde befreit.“ Der Rest der Meldung ist rein militärischen Inhalts und beschreibt den weiteren Vormarsch über verschiedene Dörfer in Richtung Elbe. Was also für die Militärs nur eine marginale Bedeutung hatte, war für die Gefangenen von existentieller und ist für uns heute von zentraler historischer Bedeutung. Für die meisten der über 5.000 Russen, für fast 2.700 Italiener, circa 3.200 Franzosen sowie 3.500 Polen bedeutete dieser Tag das Überleben. Viele der Kriegsgefangenen starben noch Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Gefangenschaft.
Zeithain war nicht irgendein Lager für Kriegsgefangene wie aus vielfachen Forschungen der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten bekannt ist, sondern der Ehrenhain Zeithain ist gleichzeitig der größte Friedhof sowjetischer Soldaten im Freistaat Sachsen und der größte Friedhof sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland überhaupt. Mehr als 25.000 sowjetische Bürger verloren hier im Verlauf von vier Jahren ihr Leben. Aber auch das tragische Schicksal der Überlebenden, als vermeintliche „Vaterlandsverräter“ bezeichnet, darf hier nicht unerwähnt bleiben, denn der endlose Leidensweg dieser Befreiten hat sich noch im berüchtigten „Archipel Gulag“ fortgesetzt. Hunderte von Italienern und Dutzende Bürger anderer Nationen fanden in Zeithain ebenfalls ihre letzte Ruhestätte, denn auch sie wurden nicht entsprechend der Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen behandelt.
Wie konnte so etwas, im vermeintlich zivilisierten Europa des 20. Jahrhunderts, möglich sein? Der Nationalsozialismus hat auch über das deutsche Volk unermessliches Unglück gebracht, doch für die damaligen Kriegsgegner ist er noch um ein Vielfaches verheerender gewesen. Stalins Sowjetunion hat allein über 27 Millionen Menschen im Kampf mit Deutschland verloren. Von den etwa fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen kam mehr als die Hälfte um. Denn der Krieg gegen die UdSSR war von Anfang an ein ideologisch und rassistisch motivierter Vernichtungskrieg. Er war eine Tragödie von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß, er war – den Holocaust einbezogen – ein totalitäres Verbrechen, ein Verbrechen an der Menschheit und eine der tiefsten Zäsuren und Narben in der Geschichte der Welt.
Auch ein polnischer Intellektueller wie der renommierte Historiker Bogdan Musial weist die These vom Präventivkrieg oder vom „antibolschewistischen Befreiungskrieg“ klar zurück und stellt fest, dass der Krieg gegen die UdSSR von den Nationalsozialisten von vornherein als Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg geplant war. Das Ziel war, im Osten Lebensraum zu erobern und anschließend mit Deutschen zu besiedeln und Hitler dachte, die Bolschewiken würden gewissermaßen die Vorarbeit für ihn leisten, indem sie die Führungseliten in Russland ausrotteten. Bereits 1923 schrieb Hitler: „Wenn wir aber heute von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihn untertanen Randstaaten denken.“ Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. Indem es Russland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es durch den Terror dem russischen Volk jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte.
Wir Deutsche, die wir uns der Verantwortung für unsere Geschichte stellen, gedenken dieser Ungeheuerlichkeiten mit Betroffenheit. Wir gedenken der Toten, indem wir die richtigen Schlussfolgerungen ziehen und die Verantwortung dafür übernehmen, dass sich dergleichen niemals wiederholen kann. Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen, sagt Primo Levi. Dies zu verhindern ist der Auftrag der Geschichte an uns. Das setzt voraus, dass wir diese Verantwortung, diesen Auftrag an die heranwachsende Generation weitergeben und der Erinnerung, wie es Roman Herzog einmal formuliert hat, eine Zukunft geben.
Der nach der friedlichen Revolution wieder erstandene Freistaat Sachsen hat an die lange Tradition der politischen Mitbestimmung und seine Geschichte als Verfassungsstaat angeknüpft. Die Präambel unserer Verfassung betont, dass sich das Volk im Freistaat Sachsen, ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft diese Verfassung gegeben hat. In Artikel 116 ist das Recht auf Wiedergutmachung verankert. In Artikel 117 ist festgelegt, die Ursachen für historisches Versagen zu überwinden und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Artikel 14 erklärt die Unantastbarkeit der Würde des Menschen als Quelle aller Grundrechte, die in der Verfassung garantiert werden.
Diese Grundsätze werden in Sachsen mit Leben erfüllt. In unserer Gesellschaft gibt es nicht nur einen Konsens darüber, dem politischen Extremismus konsequent und mit Nachdruck entgegenzutreten. Der Freistaat Sachsen unterstützt aktiv die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und fördert an authentischen Orten das Gedenken an sie, so wie hier in Zeithain. Dass die Vergangenheit nicht ruht, nicht ruhen kann, zeigt die große Zahl der Teilnehmer heute, unter denen viele ausländische Vertreter ganz besonders herzlich willkommen sind. Die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain ist auch ein Ort der Erinnerung und der Trauer für Angehörige. Dies trifft für Zeithain in zunehmendem Maße zu, seit viele Informationen über die hier begrabenen Toten im Internet zu finden sind. Aber auch öffentlich muss auf die Gräberstätten hingewiesen werden. Ich begrüße es daher sehr, dass die Bundesrepublik Deutschland über das für die Kriegsgräberstätten in Sachsen zuständige Ministerium für Soziales ein Projekt fördert, das beinhaltet, Namenstafeln auf den Massengrabfeldern in Zeithain und seiner Umgebung aufzustellen. Sie sollen Besuchern und Angehörigen eine besondere Nähe zu diesen Orten vermitteln, die Dimensionen des Leidens und Sterbens verdeutlichen und den Opfern Namen, Gesicht und Individualität zurückgeben. Und gerade junge Menschen müssen diese Botschaft wahrnehmen, um sich mit den Schicksalen ihrer teils gleichaltrigen Generation während des Krieges auseinander zusetzen. Auf diese Weise kann Zeithain ein lebendiger Ort des Lernens, des Verstehens und der Versöhnung werden. Es ist gut zu wissen, dass auch heute Schülerinnen und Schüler diese Veranstaltung mit gestalten und so auf ihre Weise einen Zugang zu diesem Ort und einen Bezug zu den Opfern gefunden haben.
Alle, die sich heute und in Zukunft an der Seite der Stiftung Sächsische Gedenkstätten für die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Versöhnung über den Gräbern einsetzen, können sich der Unterstützung des Sächsischen Landtags und der Sächsischen Staatsregierung sicher sein. Heute, 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung des Lagers Zeithain, haben wir viele gute Gründe dafür, mit Zuversicht auf eine dauerhaft friedliche Zukunft der Völker Europas zu blicken. Sachsen ist vor 20 Jahren Dank der Friedlichen Revolution und der deutschen Einheit in die Mitte unseres Kontinents zurückgekehrt und seither von Freunden und Partnern umgeben. Damit hat die Geschichte uns eine einzigartige und vielleicht unwiederholbare Chance gegeben. Diese Chance für uns selbst, für unser Kinder und unsere Enkel wahrzunehmen ist ein Gebot dieser Stunde. Es wird im Willen zum Frieden, wie ihn die Sächsische Verfassung fordert, für alle gültig zum Ausdruck gebracht. Und es ist jedem Einzelnen von uns - gerade an diesem Ort der Erinnerung und des Gedenkens - noch einmal ganz besonders ans Herz gelegt. Ich danke Ihnen.