Rudolf Bahro
Rudolf Bahro gehörte zu den bekanntesten reformkommunistischen Dissidenten der späten DDR. Wegen seines 1977 in der Bundesrepublik veröffentlichten Buches »Die Alternative«, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus in der DDR, war er zwischen August 1978 und Oktober 1979 im Stasi-Gefängnis Bautzen II inhaftiert.
1935 im schlesischen Bad Flinsberg geboren, studierte er in den 1950erJahren marxistische Philosophie an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und wurde Mitglied der SED. Anschließend war er vorwiegend als Redakteur tätig, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur der FDJ-Zeitschrift »Forum«. Nach der Veröffentlichung eines kritischen Theaterstücks des DDR-Schriftstellers Volker Braun wurde er seines Postens enthoben und arbeitete seit 1967 als Abteilungsleiter in einem Gummiwerk in Berlin-Weißensee. 1968 protestierte er gegen die Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei am 21. August. Der Einmarsch führte zu seinem endgültigen Bruch mit der SED. Seitdem wurde Bahro intensiv bespitzelt.
Seine Kritik am „real existierenden Sozialismus« legte Bahro in dem Buch »Die Alternative« nieder. 1974 informierte seine geschiedene Frau Gundula das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dass ihr Ex-Ehemann an einer systemkritischen Arbeit schrieb und übergab schließlich auch eine Kopie des Manuskripts. Das fertige Manuskript ließ Bahro in die Bundesrepublik schmuggeln, wo es am 22. August 1977 – zum Teil vorabgedruckt im Magazin »Der Spiegel« – erschien. Zugleich ließ er mehrere Fernsehinterviews aufzeichnen, die am selben Abend von ARD und ZDF ausgestrahlt wurden und ihn über Nacht international bekannt machten. Das MfS hatte die Aufnahmen der Interviews einige Tage zuvor mitgehört, aber nicht behindert. Am Tag nach der Veröffentlichung wurde Bahro verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen gebracht, wo er zehn Monate lang verhört wurde.
Am 30. Juni 1978 wurde er unter Ausschluss der Öffentlichkeit wegen angeblicher »Übermittlung von Nachrichten für eine ausländische Macht und Geheimnisverrat« zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die Staatsanwaltschaft konstruierte den Tatbestand, Bahro habe aus „Geldgier“ Informationen für den westdeutschen Verfassungsschutz zusammengetragen und diesem durch die Veröffentlichung des Buches »übermittelt«. Das Strafmaß stand bereits vor der Verhandlung feststand. Der Prozess, in dem Bahro von Gregor Gysi verteidigt wurde, war nur noch eine Formalität.
Unmittelbar nach seiner Verurteilung kam Bahro in die MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II. Im März 1979 wurde neben den bereits bestehenden Isolationsbereichen eigens für ihn ein streng abgetrennter Flur eingerichtet. Bahro war es gelungen, heimlich Briefe aus dem Gefängnis in den Westen zu übermitteln. Die Staatssicherheit erarbeitete eine Sicherheitskonzeption, um jegliche Kontakte zur Außenwelt zu unterbinden. Sie veranlasste den Einbau zusätzlicher Türen, das Auswechseln der Fensterscheiben mit undurchsichtigem Milchglas, die Installierung von Fernsehkameras, Sonderregeln für den Hofgang und den Arbeitseinsatz auf dem Flur. Nur bestimmtes Personal erhielt Zutritt. Unter dem Druck breiter internationaler Proteste wurde Rudolf Bahro am 11. Oktober 1979 aus Anlass des 30. Jahrestages der DDR amnestiert und am 17. Oktober zusammen mit seiner früheren Ehefrau, den beiden gemeinsamen Kindern und seiner Lebensgefährtin in die Bundesrepublik abgeschoben. Dies entsprach seinem Wunsch, weil er in der DDR auch nach dem Ende seiner Haft keine sinnvollen Betätigungsmöglichkeiten mehr sah.
Im Westen Deutschlands war Bahro Gründungsmitglied der Partei DIE GRÜNEN, wurde 1982 Mitglied ihres Bundesvorstands, verließ die Partei jedoch 1985 wieder. Ende 1989 kehrte er nach Ostberlin zurück, wo er die SED auf ihrem Sonderparteitag am 16. Dezember vergeblich von seiner Vision eines sozialökologischen Umbaus der DDR zu überzeugen versuchte. Am 16. Juni 1990 rehabilitierte ihn das Oberste Gericht der DDR vollständig. Am 15. September wurde er zum außerordentlichen Professor für Sozialökologie an die Humboldt-Universität berufen.
Neben seinen akademischen Aktivitäten in Berlin experimentierte Bahro mit neuen nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsformen in der ehemaligen DDR. Aus einem Gespräch mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf im Sommer 1991 entstand das sozialökologische Zukunftsforschungsprojekt »LebensGut« in Pommritz bei Bautzen.
Rudolf Bahro starb am 5. Dezember 1997 in Berlin. Einige Jahre nach seinem Tod kam der Verdacht auf, dass seine Krebserkrankung und die zweier anderer ehemaliger politischer Gefangener durch heimliche Röntgenbestrahlungen während der Haft mit ausgelöst worden sein könnte.
Quellen
Karl Wilhelm Fricke/Silke Klewin, Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 bis 1989, 3. Aufl. 2007
https://www.stsg.de/cms/bautzen/veroeffentlichungen/gesamtuebersicht?det...
Website der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
http://www.stiftung-hsh.de/page.php?action=search&con_id=CON_1357&page_i...
Wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Bahro
Peter Wensierski, Stasi: In Kopfhöhe ausgerichtet, in: Der Spiegel. Nr. 20, 1999 (online).
»Denken wir nun an den real existierenden Sozialismus mit seiner weit über das Spektrum der finanziellen Einkünfte hinausreichenden Kultivierung der sozialen Ungleichheiten; mit der Fortdauer von Lohnarbeit, Warenproduktion und Geld; mit seiner Rationalisierung der alten Arbeitsteilung; mit seiner quasikirchlichen Familien- und Sexualpolitik; mit seinen hauptamtlichen Funktionärskadern, seiner stehenden Armee und Polizei, die alle nur nach oben verantwortlich sind; mit seinen offiziellen Korporationen zur Einordnung und Bevormundung der Bevölkerung; mit seiner Verdoppelung der unförmigen Staatsmaschine in einen Staats- und Parteiapparat; mit seiner Isolierung in den Staatsgrenzen – so ist seine Unvereinbarkeit mit den Auffassungen von Marx und Engels evident.«
Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1979, S. 42f